In Köln-Mülheim nimmt die Kriminalität besonders dramatisch zu. Anwohner am Wiener Platz sind frustriert, die Polizei reagiert. Doch reicht das?
„Es ist eine Katastrophe“Anwohner und Geschäftsleute beklagen steigende Kriminalität in Köln-Mülheim
Regen prasselt auf die „2020“. Die Jahreszahl prangt noch immer in großen tiefroten Lettern über dem Wiener Platz in Mülheim. Es ist ein Symbol für das gleichnamige Strukturprojekt, das 2014 abgeschlossen wurde. Heute weckt die Jahreszahl allerdings ganz andere Assoziationen. Unter ihm verscheucht das plötzlich einsetzende Unwetter die Drogen- und Trinker-Szene von den Treppen. Die Menschen flüchten in die verwinkelten Passagen der Bahnunterführung. Es riecht nach Alkohol und Urin. Die Geländer und Wände sind mit Graffiti vollgesprüht, in einigen Ecken liegt Kot, funktionierende Rolltreppen sind die Ausnahme.
Auf dem Platz hat sich Polizei-Inspektionsleiter Stefan Bauerkamp mit seinem Team von rund 30 Polizistinnen und Polizisten aufgebaut. Seit rund zwei Wochen ist die Polizei fast täglich auf dem Platz und im gesamten Stadtbezirk unterwegs und führt Kontrollen durch, auch die KVB ist an den Aktionen beteiligt. An diesem Nachmittag hat die Polizei auch die Medien zu einem Kontrollgang eingeladen. Die Botschaft: „Wir wollen Präsenz zeigen“, sagt Bauerkamp.
Polizei: „Wir sehen eine Verrohung“
Schon seit Jahren gilt der Bezirk und vor allem der Wiener Platz als Kriminalitätsschwerpunkt. Doch in den vergangenen Monaten ist dort etwas ins Rutschen geraten. Das zeigt allein ein Blick auf die Delikte zwischen Februar und März. Ein Auszug. 14. Februar: 19-Jähriger am Wiener Platz angeschossen, 20. Februar: 21-Jähriger in Höhenhaus angeschossen, 2. März: 16-Jähriger schlägt einen Mann mit einem Baseballschlager bewusstlos. Und der tragische Höhepunkt: Am 10. März findet Polizisten die Leiche eines 15-Jährigen im Mülheimer Hafen, der mit einem Messer getötet wurde.
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„Wir sehen in der Drogen- und der begleitenden Gewaltkriminalität eine Verrohung und eine gestiegene Gewaltbereitschaft, die für eine erhebliche Verunsicherung bei der Bevölkerung sorgt. Mit unserer Präsenz wollen wir das Sicherheitsgefühl der Menschen stärken“, sagt Bauerkamp beim Gang durch die Unterführung des Wiener Platzes.
Kriminalität in Köln-Mülheim steigt besonders stark an
Schon im vergangenen Sommer hätten Schwerpunkteinsätze gegen die Szene am Wiener Platz Erfolg gezeigt, sagt er. „Jetzt weiten wir den Einsatz auf andere Stadtteile rund um Mülheim aus.“ Denn: „Der Wiener Platz ist zwar ein Hotspot, aber die Gewalt- und Straßenkriminalität weitet sich von hier aus auch auf die umliegenden Viertel aus. Dem wollen wir Rechnung tragen.“
An diesem Tag haben Bauerkamp und sein Team nicht viel zu tun. Das schlechte Wetter vertreibt die Szene bald auch aus der Bahnstation. Ein angetrunkener Mann pöbelt noch in Richtung der Beamten und schreit: „Gibt mir mal n' Blättchen, ich will kiffen!“ Dann läuft auch er davon.
Es sind aber nicht nur Einzeltaten, die das Viertel beschäftigen. Zwar ist die Zahl der Straftaten in ganz Köln im vergangenen Jahr um sechs Prozent gestiegen. Den stärksten Anstieg von allen verzeichnet jedoch die Polizeiinspektion Mülheim mit 15 Prozent. Besonders auffällig sind die Zuwächse bei Raub (plus 31 Prozent), Diebstahl (plus21 Prozent) und Rauschgiftdelikten (plus 19 Prozent). Überall steht Mülheim an der unrühmlichen Spitze der Statistik.
Fragt man Anwohner und Geschäftsleute am Wiener Platz nach den Erlebnissen, die sich hinter diesen Zahlen verbergen, bricht sich Frust Bahn. „Das ist hier eine völlige Katastrophe“, sagt Sari Cana, die in einem Café in der Galerie am Wiener Platz arbeitet. „Unsere Gäste trauen sich kaum noch zu uns. Fast täglich wird geklaut, das ist doch traurig“, sagt sie. Seit 25 Jahren arbeitet sie am Wiener Platz. „Die Anfangszeit war schön, aber in den letzten zehn Jahren ist es schlimmer und schlimmer geworden.“
Anwohner in Mülheim sehen soziale Ursachen für Kriminalität
Auch Viktor Eltert, Optiker in einem Brillengeschäft am Wiener Platz, nimmt wahr, dass sich die Situation in den letzten Jahren weiter verschlechtert habe. „Noch gestern hat jemand versucht zu klauen, letztes Jahr hat jemand hier unsere Schaufenster eingeschlagen“, zählt er auf. Auch er sorgt sich um sein Geschäft. „Unsere Kunden berichten immer wieder, wie sie hier auf dem Platz beklaut werden.“
Dass die Polizei jetzt mehr Präsenz zeigt, findet er gut. „In den letzten Wochen war es hier ein bisschen ruhiger. Aber Idioten laufen hier immer noch rum, und sobald die Polizei abzieht, werden es wieder mehr.“
Doch warum spitzt sich die Situation in Mülheim zu? „Alles wird teurer, die Leute haben kein Geld mehr, das sieht man dann auch hier vor der Tür“, glaubt Cana. Dem stimmt auch Helmut Zoch zu. Der 72-Jährige ist Vorsitzender der Bürgereinigung Mülheim, er betreibt ein Catering-Service und einen Biergarten am Wiener Platz und engagiert sich seit Jahrzehnten für den Stadtteil, in dem er groß geworden ist. „Das Geld ist knapp geworden. Das merkt man in einem Stadtteil wie Mülheim besonders schnell“, sagt er.
Hinzu komme der Zuzug von Geflüchteten, die ebenfalls oft in prekären sozialen Verhältnissen leben. „Viele sind junge alleinstehende Männer ohne Job und Aufgabe.“ Tatsächlich liegt die Arbeitslosenquote im Bezirk bei 11,5 Prozent, nach Kalk ist das der höchste Schnitt stadtweit. Bei der Jugendarbeitslosigkeit sieht es ähnlich aus. Und auch der Anteil von Geflüchteten und Menschen ohne deutschen Pass ist in Mülheim besonders hoch.
Anwohner in Mülheim fordern Umgestaltung des Wiener Platzes
Gleichzeitig befindet sich das Viertel in einem beispiellosen Wandel. Das I/D Cologne im Mülheimer Norden ist das größte Bauprojekt der Stadt. Im Mülheimer Süden steht ein weiteres Riesenprojekt in den Startlöchern – und wohl auch eine neue Durchmischung des Veedels. „Viel davon sieht man hier im Straßenbild noch nicht. Die Leute, die zum Beispiel im I/D Cologne arbeiten, die kommen hier nur zum Arbeiten hin, wohnen aber in Lindenthal oder Sülz“, meint Zoch.
Er findet es gut, dass die Polizei nun präsenter im Veedel ist. „Wir haben schon bei den Aktionen im Sommer gesehen, dass das was bringt und zumindest nicht mehr so offensichtlich gedealt wird.“ Die Ursachen können damit aber noch nicht behoben werden, glaubt er: „Wir müssen den jungen Menschen hier im Veedel eine Perspektive bieten. Das fängt schon in der Schule an.“
Schuld an der besonders schlimmen Situation am Wiener Platz sei aber auch dessen Gestaltung. „Der Platz lädt zu gar nichts ein, außer zum Biertrinken auf den Treppen. Wir müssen ihn neu beleben“, fordert Zoch. Mehr Grün, mehr Sauberkeit, weniger verwinkelte Ecken in der Bahnstation – das hört man immer wieder, wenn man Anwohner und Geschäftsleute nach ihren Wünschen für den Wiener Platz fragt.
Zoch hat noch eine andere Idee: „Warum bauen wir hier nicht einen Kinderspielplatz hin?“ Wenn man den Platz für Kinder und deren Eltern attraktiv machen würde, könnte er für die Drogenszene unattraktiver werden, so Zochs Hoffnung. „Für die Kinder hier gibt es sowieso zu wenig und Kinder bedeuten soziale Kontrolle.“ Ideen, wie die Situation in Mülheim und am Wiener Platz verbessert werden kann, sind also zahlreich. Vielleicht reicht es ja sogar für ein neues Strukturprojekt „Mülheim 2030“.