AboAbonnieren

Vom Weltkonzern zu Schauspiel, Zahnarzt und „Muckibude“So sah das Kölner Carlswerk vor 150 Jahren aus

Lesezeit 4 Minuten
Zeichnung der Werksansicht des Carlswerk aus dem Jahr 1905

Werksansicht 1905

Das Carslwerk hat in seiner 150-jährigen Geschichte viele Veränderungen mitgemacht – vom globalen Unternehmen bis zur „Muckibude“.

Wehmütig schaue er nicht zurück, sagt Stephan von Guilleaume. Vielmehr freue er sich, dass neues Leben eingezogen ist in die historischen Gemäuer links und rechts der Schanzenstraße. Ob Werkshallen mit Sheddächern oder stattliche Verwaltungskomplexe: Sie alle erzählen noch heute vom Stolz eines Riesen-Unternehmens, das es nicht mehr gibt.

Das Carlswerk von Felten & Guilleaume, ansässig im Mülheimer Norden, war ein Gigant der Kabel- und Drahtseilproduktion. Zeitweilig waren hier mehr als 20.000 Menschen beschäftigt, das Firmenareal war so groß wie 50 Fußballfelder. Die Arbeit war laut und dreckig, wo sich heute Start-ups, Medienunternehmen und Freizeitbetriebe über schicke Arbeitsplätze mit Industriecharme freuen. Der Strukturwandel ist längst vollzogen.

Stephan von Guilleaume (l.) und Ulrich S. Soénius auf dem Carlswerkgelände.

Stephan von Guilleaume (l.), Ur-Ur-Enkel des Carkswerkgründers und Ulrich S. Soénius, Direktor des Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchivs (RWWA), auf dem heutigen Carlswerkgelände.

Dass die genau 150 Jahre alte Geschichte des Carlswerks nicht in Vergessenheit gerät, hat sich Stephan von Guilleaume auf die Fahne geschrieben. Er, der Ur-Ur-Enkel des Carlswerkgründers Franz Carl Guilleaume, hat Dokumente in seiner Familie zusammengetragen und dem Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv (RWWA) übergeben. Außerdem engagiert er sich für die Guilleaume-Stiftung, die behinderten Kindern und Jugendlichen Ferienaufenthalte ermöglicht. Es gehe ihm darum, die Erinnerung an F&G wachzuhalten, sagt der 63-jährige Augsburger: „Weil es ein Teil von Köln ist.“

150. Jubiläum: Im Carlswerk Köln entstanden erste Telefonkabel zwischen Europa und Amerika

Für RWWA-Direktor Ulrich S. Soénius war es ein Teil von Köln mit internationaler Bedeutung: „Die haben ein bisschen die Welt bewegt“, sagt der Historiker beim Rundgang mit Stephan von Guilleaume vorbei an restaurierten Backstein-Fassaden. Hinter diesen Fassaden wurden nicht nur die Tragseile für die erste Mülheimer Brücke oder die Rodenkirchen Brücke hergestellt, sondern auch das erste transatlantische Telefonkabel zwischen Europa und Nordamerika und Starkstromkabel für Ägypten, Marokko oder Jamaika.

F & G spielte in der Liga von AEG und Siemens.
Alexander Kierdorf, Kunsthistoriker

Der Betrieb des Carlswerks startete am 1. Juli 1874 an der Schanzenstraße mit einem Verwaltungsgebäude und einem Fabrikbau für Drahtseile und Kabel inklusive einer 400 PS starken Dampfmaschine. Der Nukleus ist erhalten geblieben, ebenso diverse Erweiterungen. Auch die unternehmenseigenen Arbeiterhäuser an der Keupstraße können noch bewundert werden. „Man hat an der Zehntstraße sogar einen Kindergarten gebaut, damit man auch Frauen beschäftigen konnte“, sagt Kunsthistoriker Alexander Kierdorf, der Führungen auf dem Gelände anbietet.

Sepia-Bild der Fassade einer Industrie-Fabrik

Das Carlswerk war früher eine riesige Drahtseilfabrik, die weltweit operiert hat.

Ursprünglich stellte Felten & Guilleaume am Kartäuserwall Hanfseile her. 1835 kamen Drahtseile hinzu, die im Bergbau Verwendung fanden. Dieser Zweig entwickelte sich prächtig. Nach einer Zwischenstation in Wahn siedelte die Drahtseilproduktion in die damals noch selbstständige Stadt Mülheim um. Hier gab es ausreichend Platz, eine sehr gute Eisenbahn-Anbindung und natürlich den Rhein als wichtigen Transportweg.

Unternehmen gewann vor dem Ersten Weltkrieg an Aufschwung

Die Auftragslage entwickelte sich hervorragend. Dafür sorgte zunächst das Telegrafennetz, anschließend die Elektrifizierung. Mit der Verkabelung von Kraftwerken in den Braunkohleabbau-Gebieten sei das Unternehmen vor dem Ersten Weltkrieg regelrecht aufgeblüht, sagt Kierdorf: „F & G spielte in der Liga von AEG und Siemens.“ 1889 wurde mit Barmen eine ganze Stadt mit Starkstromkabeln ausgestattet.

Die Mitarbeiterzahl wuchs beständig. Ging es 1874 mit 150 Beschäftigten los, waren es 1895 waren schon 3200. Auch das Firmengelände dehnte sich immer weiter aus. „Wir konnten sehr zukunftsträchtig Entwicklungen abschätzen“, so Stephan von Guilleaume, der allerdings dem Familienzweig entstammt, der sich weiterhin um die Hanfverarbeitung kümmerte und schließlich nach Bayern übersiedelte.

150 Jahre Carlswerk - Draht-Bewehrungsmaschine Kabelfabrik II - 1929

Eine Draht-Bewehrungsmaschine in der Kabelfabrik II im Carlswerk des Jahres 1929.

Für Mülheim war die Ansiedlung des Unternehmens ein Glücksfall. Denn die Textilindustrie, die lange Zeit das Wirtschaftsleben der Stadt prägte, ging ihrem Ende entgegen. Die Arbeit wartete nun an der Schanzenstraße: „Die Elektroindustrie war um die Jahrhundertwende die Zukunftsbranche überhaupt“, so Alexander Kierdorf.

Niedergang begann in den 1980er Jahren

Ursprünglich war F & G eine Familien-Aktiengesellschaft, doch die Ära der Guilleaumes im Carlswerk endete bereits in den 1920er Jahren. Nach und nach übernahm der luxemburgische Stahlkonzern Arbed die Aktienmehrheit. Im Zweiten Weltkrieg seien hier viele Zwangsarbeiter eingesetzt worden, sagt Ulrich S. Soénius. Die Beschädigungen durch Bombardements hielten sich in Grenzen, sodass es nach dem Krieg schnell weiter gehen konnte.

Mit rund 23.000 Mitarbeitern erreichte die Belegschaft 1960 einen Rekordstand. Doch nach mehreren Eigentümerwechseln und einem tiefgreifenden Strukturwandel setzte in den 1980er Jahren der Niedergang ein. „Am Ende waren noch 600 Leute beschäftigt“, sagt Ulrich S. Soénius. So ganz untergegangen sei das F & G-Erbe allerdings nicht. Das Drahtwerk Köln produziere noch immer auf dem Gelände. Der Rest wurde von Immobilienentwicklern restauriert und vermarktet.

Alexander Kierdorf ist begeistert vom Werdegang des Quartiers. Erhalten geblieben seien Industriegebäude aus allen Epochen, schrittweise umgenutzt in hoher architektonischer Qualität: „Jahrzehnt für Jahrzehnt können hier Veränderungen gezeigt werden.“ Auch Stephan von Guilleaume findet lobende Worte: „Alle Details werden liebevoll wieder hervorgeholt, entsprechend des Alters der Gebäude.“ Wo es früher um Kabel und Drähte ging, sei nun alles zu finden – vom Schauspiel über Zahnärzte bis zur „Muckibude“.