Nachruf auf Alessandro D'AsaroDer 27-jährige Kölner weigerte sich zu leiden
- Alessandro D'Asaro lebte mit Spenderniere und Herzfehler. Weil der Hotelkaufmann und FC-Fan vor Optimismus strotzte, war er für viele ein Vorbild. Bevor er starb, wurde er positiv auf Covid 19 getestet.
- Ein Nachruf.
Köln – Die Frauenärztin interpretiert die Ultraschallbilder zwei Wochen vor der Geburt besorgt. Blase und Nieren des Embryos sehen nicht normal aus. „Hier stimmt was nicht. Wir müssen weitere Untersuchungen im Krankenhaus machen lassen“, sagt sie. Als das Baby dann da ist, kurz vor dem Kaiserschnitt-Termin natürlich zur Welt gekommen, kann es nicht bei der Mutter bleiben. Der Krankenwagen steht schon vor der Tür. Eine Stunde nach seiner Geburt muss Alessandro D’Asaro zu Untersuchungen ins Kinderkrankenhaus an der Amsterdamer Straße.
Nierenversagen nach drei Tagen
Nach drei Tagen versagen seine Nieren. Das Neugeborene kommt auf die Intensivstation und wird an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Die Klappen zwischen Harnleitern und Harnblase funktionieren nicht richtig. Mit neun Monaten wird Alessandro an der einen Niere operiert, mit 18 Monaten an der anderen. Für zweieinhalb Jahre nimmt er jeden Tag Antibiotika. „Unsere Sorgen begannen vor seiner Geburt und sind ein ständiger Begleiter geblieben“, sagen seine Eltern.
Und er, Alessandro, von allen nur Ale genannt? Lacht und lebt, als gäbe es kein Morgen – und keine Sorgen.
Womöglich ist es das frühe, intuitive Verständnis dafür, dass nichts im Leben selbstverständlich ist, nichts sicher, nichts für immer, das Alessandro D’Asaro demütig gegenüber dem Leben macht – und leuchten lässt.
Löwenherz mit Löwenmähne
Das Leuchten beschreiben Freunde und Mitschülerinnen in einem Buch zum Gedenken Hundertfach: „Ein Löwenherz, passend zu seiner Löwenmähne“ – „Nie traurig, genervt oder gar böse“ – „Für ihn gab es kein entweder oder, in seinem Herzen war so viel Platz für jeden“ – „Seine fröhliche Art hat jeden noch so blöden Tag zu einem besseren gemacht“ – „Als Klassensprecher hat er sich immer für seine Klasse eingesetzt, hatte immer die passenden Worte parat“ – „Er hat mir beigebracht, weniger pessimistisch zu sein und mich nicht von Vorurteilen leiten zu lassen“ – „Er konnte uns wirklich immer zum Lachen bringen“ – „Er hat so eine Freude ausgestrahlt“ – „Er hat mir eine Schulter zum Ausweinen gegeben und mir die Hand gereicht, wenn ich seine Hilfe brauchte“ – „Er war immer so nett.“
Nach seinem Tod füllt sich das Buch mit Erinnerungen binnen einer Woche mit Einträgen von Dutzenden Menschen, die sich von Alessandro so angestrahlt fühlten wie Vater, Mutter, Bruder und Schwester.
Einverstanden mit sich und der Welt
Seine Mutter sagt, sie könne nicht sagen, warum Alessandro, mittleres von drei Kindern, der Sonnenschein der Familie gewesen sei. Warum ausgerechnet er, der von der Natur benachteiligt war, der Streitweglächler und Harmoniker, der Witzemacher, Entertainer und Vermittler war.
Warum er fast immer tiefenentspannt war, fast nie betrübt oder zweifelnd. „Er war einfach einverstanden mit sich und der Welt“, sagt die Mutter. „Er hatte ein Vertrauen ins Leben, das viele nicht haben – obwohl er ja eigentlich nicht unbedingt Grund dazu hatte.“ Woher das kam? „Wer weiß. Er hatte es einfach.“ Jeder kennt diese Menschen, die das Leben in fast allen Situationen annehmen und genießen können, für die es selbstverständlich ist, dass das Leben etwas Gutes ist. Und die von jenen, die mehr zweifeln, beneidet oder bewundert werden. „Ale hatte diese Gabe“, sagt seine Mutter. „Und durch seine Krankheit hat er uns die Zerbrechlichkeit des Lebens bewusster gemacht – und unser Familienleben intensiver.“
Erst mit 16 wird Alessandro klar, dass er ernsthaft krank ist. Da arbeitet er ehrenamtlich im Deutzer Jugendzentrum, auch mit schwerbehinderten jungen Menschen – und erfährt nach einer Routineuntersuchung beim Kinderkardiologen, dass er neben seinem Nierenleiden auch einen Herzfehler hat. Ab sofort darf er kein Krafttraining mehr machen und nicht mehr schwer heben. Fitness ist ihm wichtig. Die Diagnose ist ein Schlag für ihn.
Als Alessandro seinen Eltern damals erzählt, dass er sich bis dahin nie für krank gehalten habe, können die es kaum glauben: Und wie hat er die häufigen Arztbesuche erlebt? Die Checks im Krankenhaus? Die Geschichten von den ersten Jahren, den Operationen, den nicht richtig funktionierenden Nieren? „Fand ich alles nicht schlimm, ich konnte doch alles machen“, sagt der Sohn. „War für mich irgendwie normal.“
Nierentransplantation notwendig
Im Herbst 2016 verschlechtern sich seine Nierenwerte rapide. Die Fachärzte sind überrascht – und sprechen mit ihm darüber, dass er bald zur Dialyse müsse. Mutter und Vater bringen eine Spenderniere ins Spiel – ein Szenario, mit dem sich die Eltern seit der Geburt ihres Sohnes auseinandergesetzt haben. Ab März 2017 ist Alessandro krankgeschrieben – und macht trotzdem seinen Abschluss als Hotelkaufmann. Im Frühsommer muss er am Steißbein operiert werden – die längst geplante, dringend gewordene Nierentransplantation muss verschoben werden.
Alessandro weiß längst um den Ernst seiner Lage, macht das aber weiterhin lieber mit sich aus. Er bleibt optimistisch. Und weigert sich, zu leiden.
Am 3. Januar 2018 erhält Alessandro die rechte Niere seiner Mutter. In der Folge nimmt er täglich zwölf Tabletten, acht morgens um 7.30 Uhr, vier abends um 19.30 Uhr, er stellt sich den Handywecker und schluckt die Pillen auf die Minute pünktlich, immer. 18 Monate dauert die Rehabilitation. Es treten Komplikationen auf; er bekommt starken, trockenen Husten, der nicht mehr weggeht. Neun Monate nach der Transplantation versagt die Spenderniere – als Notfallpatient kommt Alessandro ins Krankenhaus. Ursache für das „akute Transplantatversagen“ ist womöglich ein vom Arzt abgesetztes Medikament. Er bekommt hohe Dosen Kortison, mehrere Tage ist sein Zustand kritisch, bis er sich stabilisiert.
Als seine Mutter sagt, wenn die Niere dauerhaft versage, könnte er die Niere von einem Onkel oder Bruder bekommen, es hätten sich ja alle aus der Familie zu einer Spende bereit erklärt, sagt er: „Nein Mama, das will ich nicht. Eine Niere ist doch kein neuer Pulli. Wenn es nicht klappt, lassen wir dem Schicksal seinen Lauf.“
Über die Transplantation spricht er nur mit seinen besten Freunden und der Familie. Mehrere Jahre zögert er, einen Behindertenausweis zu beantragen, obwohl er inzwischen als 100 Prozent schwerbehindert gilt. Er will seine Krankheit nicht zum Thema zu machen. Er war immer einer der besten im Sport, ist wortgewandt, selbstbewusst, niemand, der irgendwie geschützt werden müsste. Und das auch nicht wollen würde.
Mittler und Mittelpunkt
Alessandro hat immer lieber Verantwortung übernommen. Wenn kein anderer wollte, wurde er eben Klassensprecher und Stufensprecher. Als er die Lehre zum Hotelkaufmann machte, wurde er nach ein paar Wochen zum Model für eine Werbekampagne erkoren, als einziger junger Mann, sein Gesicht war jetzt in Broschüren und auf Social-Media-Kanälen zu sehen – warum nicht, kein Problem. Für seinen Fußballverein Deutz 05 spielte er im rechten Mittelfeld – und war trotzdem der Motivator und Kopf der Mannschaft. In der Schule galt er als aufgeschlossen, ehrgeizig, lustig. Mittler und Mittelpunkt.
Erinnerungen. „Alessandro hat etwas erreicht, was wir in all den Jahren nicht hinbekommen haben, er hatte eine Energie, die uns alle verbunden hat.“ – „Ich habe dich dafür bewundert, dass du immer mutig warst und genau wusstest, wer du bist und was du wolltest.“ – „Du hast Dich immer für andere eingesetzt.“ – „Er ging mit uns sogar zum Weihnachtsmarkt, obwohl er Weihnachtsmärkte gar nicht mochte.“ – „Er hat in 20 Jahren, in denen ich ihn kannte, nicht einmal schlecht über andere Menschen gesprochen.“ – „In jedem Moment der reinste Gentleman.“ „Wow, was für ein Typ.“
Alessandro selbst hätte nie von sich gesagt, ein besonderer Mensch zu sein, sagt seine Mutter. Er lebte einfach. Ganz normal, eigentlich.
„Ein bisschen wie Peter Pan“
Er fliegt mit seinen besten Freunden zum Party machen nach Mallorca. Sie leiden zusammen, wenn der 1. FC Köln mal wieder eine unterwältigende Niederlagenserie hinlegt. Er sammelt Fußballtrikots und freut sich wie jeck, wenn jedes Jahr ein neues Jersey unter dem Weihnachtsbaum liegt. Er ist fasziniert von Lionel Messi, den er für den besten Fußballer aller Zeiten hält. Guckt jedes Spiel im Fernsehen. Jongliert mit Fußbällen im Wohnzimmer, sobald ein Ball vor ihm liegt. Spielt entscheidende Szenen von großen Spielen nach. „Ale war ein bisschen wie Peter Pan“, sagen seine Eltern. Ein Mann, der sich dem Leben stellt, und gleichzeitig Kind bleibt.
Alessandro freut sich auf die Pizzaessen mit der Familie genauso wie über die Spaziergänge mit seiner Freundin und die regelmäßigen Opa-Enkel-Tage. Und über seine Arbeit im Ausländeramt, bei der er täglich neue Menschen mit spannenden Biografien kennenlernt. Im September 2018 hat er nach 18 Monaten Auszeit seine zweite Ausbildung zum Verwaltungsfachwirt bei der Stadt Köln begonnen. In seine Bewerbung schrieb er: „Was könnte es Schöneres für einen Kölner geben, als für die Stadt Köln zu arbeiten?“
Er arbeitet gern, redet gern, feiert gern, isst gern, spielt gern Fußball, guckt gern Fußball. Mag den FC und die italienische Nationalelf, Köln und Sizilien, (sein Vater kommt aus der Provinz Agrigento). Freundin, Freunde, Familie, danach kommt bei ihm lange nichts. Seine Welt hält er lieber klein und überschaubar.
Die Corona-Pandemie bereitet Alessandro Sorgen. Anfang November 2020 bittet er seine Lehrerin an der Berufsschule, ins Homeschooling wechseln zu dürfen und erklärt ihr, warum ihm das wichtig ist. Am 11. November steht eine der letzten Klausuren vor der Abschlussprüfung an. Für die Klausur fährt er pflichtbewusst in die Schule. Die Lehrerin wundert sich – und rät ihm, ab sofort zu Hause zu bleiben.
Wenige Monate vor dem Abschluss seiner zweiten Ausbildung hat der 27-Jährige schon einen festen Job im Ausländeramt in Aussicht. Mit seiner Freundin, die er kennengelernt hat, als sie Gast in jenem Hotel war, in dem er arbeitete, sucht Alessandro eine Wohnung in Köln.
Beim Abendessen muss er Blut spucken
Am 12. November 2020 sitzt er mit seiner Mutter beim Abendessen, sie essen selbst gemachte Linsensuppe, sein dritter Nachschlag, und sprechen darüber, wie erleichtert er sei, wieder im Homeschooling zu sein wegen Corona, als Alessandro plötzlich röchelt. Er läuft ins Bad, ein Blutschwall sprudelt aus seinem Mund. Sie rufen einen Rettungswagen, der Notarzt stellt zunächst nichts Beunruhigendes fest. Er habe nichts in der Lunge, glaubt der Ersthelfer. Ins Krankenhaus kommt er lediglich, weil er einen enorm hohen Blutdruck (190/120) hat.
Im Deutzer Eduardus-Krankenhaus wird eine akute Bronchitis festgestellt. Erst deutlich später wird auch ein Lungenödem diagnostiziert. Es haben sich Thrombosen gebildet, die den Blutfluss erschweren. Die Spenderniere funktioniert einwandfrei.
In der Nacht telefoniert Alessandro mit seinen Eltern und sagt: „Macht Euch keine Sorgen, ich bin stabil. Lasst die Ärzte mal machen, die kennen sich aus. Mir geht es gut.“ Ein Corona-Test, werden die Eltern später erfahren, ergibt einen positiven Befund. Im Untersuchungszimmer muss Alessandro erneut Blut spucken und schreit um Hilfe. Er kommt sofort auf die Intensivstation. Wegen Corona dürfen seine Eltern nicht zu ihm, am Eingang wird ihnen gesagt, sie müssten draußen warten.
Krankmeldung von der Intensivstation aus
In einem Chat an seine besten Freunde schreibt Alessandro in der Nacht, dass er auf der Intensivstation liege und an alle möglichen Geräte angeschlossen sei. Er schreibt auch noch seiner Lehrerin und der Ausbildungsleitung bei der Stadt Köln und meldet sich bei ihnen krank.
Einen Tag später, am 13. November, wird er ins künstliche Koma versetzt, nachdem die Ärzte einen Blutstau im rechten Lungenflügel entdeckt haben. Vor der Narkose sagt er zu den Ärzten mit einem Zwinkern im Auge: „Hoffen wir mal, dass es gut geht, heute ist ja Freitag, der 13.“ Tags darauf wird er nach Merheim auf die Lungenintensivstation verlegt.
In den kommenden Tagen beruhigen die Ärzte die Eltern am Telefon. Sie erklären, wie Alessandro aufgeweckt werden soll. Er sei stabil, am Dienstag oder Mittwoch könnte das Koma voraussichtlich wieder beendet werden. Wegen der geltenden Corona-Verordnungen darf weiterhin niemand zu ihm – alle Informationen fließen übers Telefon. Was die Ärzte sagen, stimmt die Familie zuversichtlich.
Wider Erwarten treten Komplikationen auf. Er bekommt hohes Fieber. Beim nächsten Anruf ist von Herzrhythmusstörungen die Rede. Völlig unerwartet, nachts um 3 Uhr, folgt ein weiterer Anruf von der Intensivstation: Alessandro habe wiederbelebt werden müssen. Die Eltern interpretieren die Information so, dass das gelungen sei.
Doch als Mutter, Vater, Bruder und Schwester an sein Bett kommen, ist Alessandro schon klinisch tot.
Könnte Alessandro noch leben?
Bis heute hat die Familie viele Fragen. Hat das Virus die Thrombosen begünstigt? Die Ärzte halten das für möglich. Hat eine Medikamentenkombination, die schwere Nebenwirkungen haben kann, seinen Tod ausgelöst? Hätte er besser vor einer Covid-Infektion geschützt werden können? Früher nicht mehr zur Schule gehen sollen? Nicht mit der Bahn zur Schule fahren sollen? Könnte er noch leben, wenn er sofort in Merheim behandelt worden wäre?
Alessandros Asche liegt auf dem Friedhof Melaten unter einer alten Eiche, die auf eine junge Eiche schaut. Das Kreuz geht nach Westen, Richtung Rhein-Energie-Stadion. Sein Grab ist eingebettet in einen Ruhehain zwischen anderen Gräbern und geschmückt mit einem Dom.
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Seine Eltern kommen fast täglich an sein Grab und sprechen mit ihrem Sohn. Sein Zimmer ist noch unverändert. Seine Lederjacken, seine Sonnenbrillen, seine Bettwäsche. „In unseren Gedanken lebt Alessandro weiter. Wie oft denken wir, wenn wir von der Arbeit kommen, dass er jetzt gleich vor uns stehen müsste. Es ist ein Jahr her, und wir begreifen bis heute nicht, dass er nie mehr zur Tür reinkommen wird.“
Trotzdem ist da auch Dankbarkeit. „Wir hatten unseren Ale 27 Jahre. Und es hätte schon drei Tage nach seiner Geburt vorbei sein können“, sagen die Geschwister kurz nach seinem Tod. Sie erinnern sich ständig an Momente mit ihm, die ihnen bleiben werden. Und daran, dass er gewollt hätte, dass sie weiter an ihre Zukunft denken.
Auf der Trauerfeier sagt die Grabrednerin vor mehreren Hundert Gästen: „Ale war ein großer Entertainer, wie Stan Laurel, von dem das Zitat stammt: „Wenn jemand auf meinem Begräbnis ein langes Gesicht macht, dann spreche ich nie wieder ein Wort mit ihm.“
Im Paradies mit Dom, Rhein, Fußball und Karneval
Wenn Menschen früh sterben, leben mehr Erinnerungen fort. Mehr Erzählungen, Hoffnungen, Wünsche. Eine letzte winzige Auswahl aus einem riesigen Gedankenschatz von Alessandros Gefährten: „Ich hoffe, dass es im Paradies einen Dom, einen Rhein, einen Fußball und viel Karnevalsmusik gibt.“ – „Wir werden alle das Ding für dich rocken!“ – „In unseren Gedanken bleibst Du immer bei uns.“ – „Du strahlst weiter.“ – „Wir feiern Dich.“ – „Das Licht, das du in mir hinterlassen hast, wird ewig brennen.“