Der 13. November 2020 begann in Köln mit blauem Himmel und unnatürlich warmem Wind. Anne Mutz wollte ihre fast 95-jährige Mutter Liselotte nach dem Frühstück zum Arzt fahren, es ging um das Ergebnis einer Lungenuntersuchung.
Wie stets nahm sie das Auto, um von Nippes nach Dellbrück zu kommen. Anne Mutz fuhr gern Auto, ihr schwarzer VW Polo cross war fast ihr zweites Zuhause. Sie fuhr mit dem Wagen auch zwei Straßen weiter, zum Bäcker auf die Neusser Straße, und hortete auf dem Rücksitz Jacken, da sie sich zu jeder Gelegenheit spontan für eine entscheiden wollte. Lippenstifte waren auch an Bord, die Lippen mit Farbe zu bedecken, war ihr wichtig, Anne Mutz tat es bei jeder Gelegenheit. Nie hätte sie sich draußen ohne Lippenstift gezeigt, nie nach einem Kaffee oder Essen vergessen, neues Rot aufzutragen.
Am Abend zuvor hatte die 66-Jährige mit ihrem guten Freund Kurt einen Spaziergang gemacht und später den Film „Der König von Köln“ geguckt, eine Satire auf den Skandal um den Bau der Kölner Messehallen samt Klüngel zwischen Stadtverwaltung, Bankhaus Sal. Oppenheim und dem windigen Strippenzieher Josef Esch. Sie hatten Tränen gelacht und auf dem Sofa ein Glas Sekt getrunken, der Sekt gefrierfachkalt. „Für Anne musste der Sekt immer eiskalt sein“, sagt Kurt Cerny. Nach dem Einschenken musste die Flasche zurück in den Kühlschrank, besser ins Eisfach, sofort.
Wer hätte ahnen können, dass es das letzte Glas Sekt war?
Wer hätte ahnen können, dass es der letzte Film sein könnte? Das letzte eiskalte Glas Sekt? Der letzte Spaziergang? Das letzte Mal Tränen lachen mit Kurt? Die letzte Umarmung? Die letzten Träume in der Nacht? Die letzte Fahrt?
Sie hatten auch Urlaubspläne besprochen. Wie sie so oft über Reiseziele sprachen. Australien und Südafrika standen oben auf ihrer Wunschliste. Jetzt wollte Anne Mutz ihrer Mutter eine Flussschifffahrt schenken, die wegen Corona um ein Jahr verschoben worden war, Kurt sollte mitkommen. Er hatte Bedenken wegen des hohen Alters der Mutter, aber Mutz hatte die Bedenken weggewischt und gesagt, die Mama sei zäh, und wenn sie wirklich sterben sollte, müsse zur Not jemand anderes mitkommen. Was den Tod betraf, so war sie realistisch: Jener der Mutter stand irgendwann an. Bis dahin würde sie leben. Und sie, als Tochter, für sie da sein, auch wenn ihr Verhältnis nicht immer ganz ungetrübt war.
Ein eigenes Testament hatte Anne Mutz nicht gemacht, wohl hier und da mit den Freunden darüber gesprochen, dass es gut wäre, eins zu schreiben, zur Sicherheit, wer weiß, aber das hatte auch Zeit, sie war ja gesund, ging mehr als regelmäßig zur Vorsorge, hielt sich fit, hatte, seit sie vor zwei Jahren in Rente gegangen war, ein stressfreies Leben. Sie war sicher, uralt zu werden, wie ihre Mutter, zu den guten Genen gesellte sich ihr Wille zum Glück.
„Anne war immer unterwegs, sie war höchstens an einem Abend pro Woche zu Hause, ansonsten op jöck, Freunde treffen, Brauhaus, Kino, Theater, Konzerte, Urlaube, sie fand viele Dinge toll und wollte immer etwas erleben“, sagt Kurt Cerny beim Kaffee mit Silke Tholen, einer anderen engen Freundin von Mutz. „Anne hat das Leben immer gefeiert.“
Begeisterungsfähigkeit und Unternehmungslust haben Cerny auf Anhieb für die lustige Frau mit den immerroten Lippen eingenommen, 1982 war das, als sie in dem Labor als Zahntechnikerin am Ubierring begann, in dem auch er arbeitete. „Nach ein paar Minuten wusste ich, dass wir Freunde werden“, sagt Cerny.
Anne Mutz wusste das vermutlich auch. Freundschaften waren ihr großes Talent. Sie lebte allein und war selten allein, weil sie gern mit anderen zusammen und treu für sie da war. Ihre Tante pflegte sie bis zum Tod, genauso selbstverständlich kümmerte sie sich um ihre Mutter. Brauchte jemand Hilfe oder ein Ohr, war sie da. Über allem standen ihre Freunde und lieben Nachbarn, mit denen spontan ein Fass Kölsch in der Garage angezapft wurde und deren Geburtstage Anne Mutz mit persönlichen Geschenken bedachte – am liebsten mit gemeinsamen Unternehmungen.
Ohne Portemonnaie durchs Leben
„Wenn sie zu mir kam, sagte sie meistens: Ich habe uns was zum Fröseln mitgebracht“, sagt Silke Tholen, die dann wusste, dass es ein paar leckere Kleinigkeiten gibt – ein frisches Brot, ein Stück Käse, ein bisschen Mett, eine Flasche Wein. „Fröseln“ war eine Wortschöpfung, die so gut zu ihr passte wie die Angewohnheit, ohne Portemonnaie durchs Leben zu gehen. Geld bewahrte Anne Mutz in Hosen- oder Jackentaschen auf – und freute sich, wenn sie mal wieder unverhofft einen zerknitterten Schein gefunden hatte.
„Nur wer das Chaos in sich trägt, kann einen tanzenden Stern gebären.“ Den Aphorismus von Friedrich Nietzsche hätte Anne Mutz unterschrieben. Wobei ihr Ordnung wichtig war – es musste bloß die eigene Ordnung sein, zu der ein heißes Wannenbad nach den Unternehmungen des Tages genauso zählte wie regelmäßige Telefonate mit Freundinnen, die jährlichen Fahrten nach Graz mit Silke oder eben der Lippenstift, „bei dem sie erstaunlicherweise nicht auf Qualität achtete“, sagt Kurt Cerny; sonst habe sie bei fast allen Gebrauchsgegenständen auf Güte Wert gelegt. Ihre Kaufentscheidungen seien dabei nicht immer logisch nachvollziehbar gewesen.
„Es konnte vorkommen, dass sie ein Sofa im Geschäft zu teuer fand, um wenig später ein reduziertes, aber genauso teures zu kaufen – das dann aber nicht ins Wohnzimmer passte, weil es zu groß war“, sagt Kurt Cerny.
Anne Mutz war Genussmensch – immer fröhlich, immer optimistisch
Als Genussmenschen beschreiben Cerny und Tholen ihre Freundin. „Wenn es gutes Essen gab, hat sie schonmal unbemerkt den Knopf ihrer Hose gelöst“, erinnert sich der Freund, das konnte zu Hause sein oder im Brauhaus Päffgen, wo sich die beiden samstags zu Kölsch und Gulaschsuppe trafen. Die Pfunde wurden beim Sport wieder abtrainiert – in der Skigymnastikgruppe in Dünnwald lernte Mutz Anfang der 1990er Jahre auch Übungsleiterin Silke Tholen kennen.
„Anne war immer fröhlich und optimistisch“, sagt Tholen. Unruhig sei die Freundin geworden, wenn die Tage und Abende nicht mit Unternehmungen gefüllt waren. Also plante sie viel und vorausschauend. Für Samstag, den 14. November, waren Anne Mutz und Silke Tholen zum Wandern verabredet. Zuletzt waren sie ein paar Wochen zuvor in Erftstadt gelaufen, an Tholens Geburtstag.
Besonders schmerzlich trifft der Verlust die Freunde, weil der Tod ohne Ankündigung kam. Er war nicht eingebettet in eine Geschichte, die geholfen hätte, zu verstehen. „Der schlimmste Abschied ist, wenn man einen Menschen zum letzten Mal sieht und das nicht weiß“, wird später in einer Anzeige von Freundinnen, Nachbarn und Bekannten stehen. Für Silke Tholen war das bei der Wanderung an ihrem Geburtstag, für Kurt Cerny der Fernsehabend mit kaltem Sekt.
In der falschen Sekunde am falschen Ort
Die Ursache für den Tod der Freundin verstärkt die Ohnmacht zusätzlich. Die Betonplatte an der Schallschutzmauer an der A3 vor der Anschlussstelle Köln-Dellbrück war nicht ordnungsgemäß befestigt. Bei den Betonplatten sei „offenbar aus Platzgründen bewusst mit geschweißten Winkeln improvisiert“ worden, berichtete der Landesbetrieb Straßen NRW nach der Katastrophe nüchtern. Zwölf Jahre zuvor sei das Bauwerk nur unter dem Vorbehalt eines späteren statischen Nachweises genehmigt worden. Die „improvisierte Konstruktion“ war als Mangel aufgeführt worden.
Aber: Die Ingenieure hatten die fehlerhaft zusammengefrickelte Platte abgenommen. Bei einer Überprüfung war die Platte mit „sehr gut“ bewertet worden. Die improvisierten Winkel hatte niemand gesehen. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen des Anfangsverdachts der fahrlässigen Tötung dauern an, sagt der Sprecher der Kölner Staatsanwaltschaft.
Anne Mutz war in der falschen Sekunde am falschen Ort. Die Betonplatte löste sich in dem Moment aus der Schallschutzmauer, als sie in ihrem schwarzen VW Polo auf dem Behelfsstreifen daran vorbeifuhr, um einige Hundert Meter später die Ausfahrt zu nehmen, die zu ihrer Mutter führte. Die Betonplatte zerdrückte die Fahrerkabine wie eine Konservendose. Anne Mutz war sofort tot.
Dieser Text ist erstmals am 12. November 2021 veröffentlicht worden.