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Paragraf 175Leben zwischen Nachtbar und Beichtstuhl

Lesezeit 5 Minuten

„Das war eine schlimme Zeit“: Auch Karl-Heinz Scherer geriet ins Visier der Polizei.

Köln – Eine Nacht Ende der 50er Jahre: Am Aachener Weiher haben sich wie üblich Männer zum heimlichen Stelldichein eingefunden. Plötzlich strahlt grelles Scheinwerferlicht auf, von allen Seiten stürmen Polizisten die als Homosexuellen-Treff bekannte Grünanlage. Panik bricht aus. Karl-Heinz Scherer, damals Mitte 20, trifft eine Entscheidung, die ihm viel erspart hat – ein hochnotpeinliches Gerichtsverfahren, Verlust der Arbeitsstelle, Gefängnis. Er geht auf einen Polizisten zu und fragt: „Was ist hier los? Ich bin nur auf dem Weg nach Hause.“ Scherer wohnt damals in unmittelbarer Nähe, an der Bachemer Straße. Er kann sich ausweisen – und darf gehen.

„Das war eine schlimme Zeit. Die Polizei hat regelrecht Jagd auf uns gemacht“, sagt Karl-Heinz Scherer heute. Im Wohnzimmer des 81-Jährigen hängen Kruzifixe und Karnevalsorden an den Wänden, auf einem Lesepult ruhen zwei dicke Bände von Papst Benedikts „Jesus von Nazareth“. Scherer ist seit 60 Jahren Mitglied bei der „Großen Allgemeinen Karnevalsgesellschaft von 1900“. Er kommt aus einer katholischen Familie, ein Onkel ist Kardinal. Und Karl-Heinz Scherer ist schwul. Eine Kombination, die einen Menschen zerreißen kann, heute noch, aber damals erst recht.

Der Paragraf 175 existierte bereits im Kaiserreich. Unter den Nazis wurde das Gesetz verschärft, tausende Homosexuelle kamen ins KZ und starben. Nach 1945 blieb der Paragraf in der NS-Version in Kraft. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte ihn 1957 als rechtmäßig. Eine erste Liberalisierung erfolgte 1969. Seitdem waren sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern (ab 21 Jahren) nicht mehr strafbar. 2002 erfolgte die Rehabilitierung der NS-Verfolgten.

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Aufgehoben wurde der Paragraf 1994. Die nach 1945 verhängten Urteile blieben bestehen – bis heute. Eine Initiative des Bundesrates 2012, die nach 1945 Verurteilten zu rehabilitieren, scheiterte. Eine Aufhebung widerspreche dem Prinzip der Gewaltenteilung, hieß es. Die Legislative könne keine nach Recht und Gesetz gefällten Urteile der Justiz aufheben.

Die Kölner Arcus-Stiftung hat es sich zum Ziel gesetzt, Erfahrungen Homosexueller mit dem Paragrafen 175 zu dokumentieren. Sie hat dazu das Projekt „Zeitzeugen gesucht“ ins Leben gerufen. Ansprechpartner ist Michael Jähme (jaehme@arcus-stiftung.de)

Noch bis 1969 waren Razzien in einschlägig bekannten Gaststätten und in den Klappen, öffentlichen Toilettenanlagen, an der Tagesordnung. 1955 waren in der beim Kölner Polizeipräsidium geführten Homosexuellen-Kartei 4679 Personen erfasst. Im Jugendamt existierte ein eigener Arbeitsbereich „Maßnahmen gegen homosexuelle Umtriebe“. Rechtliche Grundlage war Paragraf 175 des Strafgesetzbuches, nach dem Intimitäten unter Männern mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft wurden. Erst 1969 wurde der Paragraf liberalisiert, vor 20 Jahren dann komplett gestrichen. Rund 50000 Schwule wurden in den frühen Jahren der Bundesrepublik nach Paragraf 175 verurteilt. Rehabilitiert ist bis heute keiner von ihnen.

Karl-Heinz Scherer hatte 1951 seine erste intime Begegnung mit einem Mann, in einem Weinberg bei Trier. Für den damals 18-Jährigen brach eine Welt zusammen. „Es war grauenhaft. Mir war sofort klar, dass ich für die Gesellschaft mit einem Schlag vom ehrbaren Bürger zum Kriminellen mutiert war.“ Was folgte, war ein „Leben zwischen Klappe und Beichtstuhl“. Scherer suchte die anonyme Begegnung auf den öffentlichen Toiletten und ging anschließend zur Beichte. Ein Dom-Pfarrer drohte ihm, die Polizei zu rufen. Erst ein Jesuitenpater von St. Peter war bereit, mit ihm ins Gespräch zu kommen. „Er empfahl mir, mich so zu akzeptieren, wie Gott mich geschaffen hat. Das hat mir geholfen.“

Die Verfolgung zwang die Männer, ein Doppelleben zu führen, das Gefühlsleben konnte nur in aller Heimlichkeit stattfinden. Man traf sich in Gaststätten in der Altstadt oder in der Nachtbar Barberina an der Hohe Pforte, wo einige Jahre lang Trude Herr als Bardame arbeitete. Karl-Heinz Scherer verkehrte im „Le Carrousel“ in der Hühnergasse. Man kannte sich, nannte sich aber nie beim richtigen Namen. Scherers Deckname damals: die Fromme Schwester. Auch Adressen oder Telefonnummern wurden nie weitergegeben.

Freier atmen in der Karnevalszeit

„Das Carrousel war damals ein hochelegantes Lokal, in das man nur mit Beziehungen kam. Der Inhaber achtete streng darauf, dass nichts Unanständiges passierte. Die Hände mussten immer auf dem Tisch sein.“ Wer mehr wollte, ging in eines der zahlreichen Trümmergrundstücke. Ein beliebter Treffpunkt war ein halb zerstörter Gewölbekeller neben der Cäcilienkirche. „Später haben wir dann erfahren, dass es sich dabei um den ehemaligen Leichenkeller des Bürgerspitals handelte.“

Scherer selbst ist nie erwischt worden bei seinen Ausflügen. Doch er kannte Menschen, die weniger Glück hatten, und er erinnert sich noch gut an den Fall des damaligen Regierungspräsidenten Franz Grobben. Das CDU-Mitglied wurde 1966 bei einer Razzia in der Klappe am Waidmarkt, gegenüber dem Polizeipräsidium, aufgegriffen. Man konnte ihm zwar nichts nachweisen, doch der Verdacht genügte. Grobben musste zurücktreten – aus gesundheitlichen Gründen, wie es hieß.

Nur in der Karnevalszeit konnten Schwule etwas freier atmen. „Da hat sich schon mancher getraut, einen Fummel anzuziehen“, sagt Scherer. Und wenn der eine Mann als Frau verkleidet war, konnte man auch einen Tanz als Paar wagen. Eine geradezu subversive Aktion dachte sich Trude Herr 1960 aus. Mit einer Schar von als Rotkäppchen verkleideten Männern schmuggelte sie sich in den offiziellen Rosenmontagszug.

Die rigiden Moralvorstellungen machten es für Homosexuelle nahezu unmöglich, einen Lebenspartner zu finden. Karl-Heinz Scherer hatte seinen ersten festen Freund 1972 – mit 39 Jahren. Sein Outing kam erst Ende der 70er Jahre: Er hatte an einer Kranzniederlegung für die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus teilgenommen, ein Foto davon erschien in der Zeitung. Sowohl sein Arbeitgeber als auch der Karnevalsverein reagierten gelassen und unterstützten ihn. Mit seiner Mutter indes konnte er nie über das Thema reden.

Bis heute sind die Urteile, die aufgrund der alten Rechtsprechung gefällt wurden, gültig. Scherer setzt keine großen Hoffnungen in die zuletzt wieder von den Grünen geforderte Rehabilitierung. „Die hätte längst kommen müssen. Jetzt ist es dafür zu spät. Die meisten sind doch tot.“