AboAbonnieren

Pflegende Eltern in KölnLucys erstes Herz hat aufgehört zu schlagen – ihre Eltern kämpfen

Lesezeit 8 Minuten
Sandra und Jens Leuschen spielen mit ihrer jüngsten Tochter Lucy auf einer Babydecke.

Nach einer Herztransplantation ist der Säugling der Familie Leuschen auf Pflege rund um die Uhr angewiesen, die beiden anderen Kinder müssen auch versorgt werden.

Die kleine Kölnerin Lucy hat ein neues Herz bekommen. Ihre Pflege bringt ihre Eltern an die Grenzen.

Sandra Leuschen hat eine neue Lieblingsbeschäftigung. Sie widmet sich ihr manchmal mehrmals am Tag. Nach dem Aufstehen, vor dem Füttern, nach dem Wickeln, beim Hin- und Hertragen, wann auch immer. Sie neigt dann den Kopf nach unten und schmiegt das Ohr gegen die Brust ihrer Tochter. Und lauscht. Und lächelt. Denn da klopft es. Und das ist für Sandra Leuschen (38) nicht weniger als ein Wunder. Denn Lucys erstes Herz hat längst zu schlagen aufgehört. Seit einem halben Jahr pumpt in ihrer Brust das Organ eines anderen Säuglings Blut durch ihren Körper.

Lucy Leuschen hat schon den ein oder anderen Meter gemacht. Überwiegend rollend, zum Teil rückwärts hat sie sich aus der Lücke unter ihrem hölzernen Spielbogen hervorbugsiert und die Höhle unter dem Wickeltisch als Ziel ins Visier genommen. Sie strahlt dabei und klimpert mit dichten Wimpern. Manchmal entfährt ihr ein Juchzen. Ganz normaler Babyalltag könnte man meinen, wäre da nicht der dünne, durchsichtige Schlauch, den Lucy hinter sich herzieht und der sich bei Drehungen zuweilen um Bauch oder Beine schlingt. Das Röhrchen ragt aus ihrem Hosenbein. Auch in Lucys winziger Nase steckt ein Schlauch, von Pflastern fixiert führt er Richtung Hinterkopf und taucht am Rücken ab in ihr Oberteil.

95 Prozent der pflegenden Eltern sind überfordert

In Deutschland sind etwa 270.000 Kinder pflegebedürftig. Für ihre Pflege wenden Eltern wöchentlich mehr als 40 Stunden auf. Laut einer Studie fühlen sich 95 Prozent dieser Menschen, die in den allermeisten Fällen Mütter sind, von ihrer Situation überfordert. Bei den Leuschens ist das nicht anders.

Wer die Geschichte der Leuschens erzählen will, der kann sich von mehreren Eingängen aus auf den Weg zum Kern machen. Wer die Vordertür benutzt, der muss mit Lucys Krankengeschichte beginnen. Schon einige Monate vor der Geburt. Als Pränataldiagnostiker eine Doppelniere sowie eine Anomalie an der Herzklappe prognostizierten, insgesamt aber Entwarnung gaben.

Der Vordertürbesucher wird dann zwangsläufig die aufregende Geburt und vor allem die Nacht vom 17. zum 18. August 2023 durchstehen müssen. Als das vier Wochen alte Baby zum ersten Mal einen Herzstillstand erlitt. In den Armen der Mutter, die sagt, zunächst für einen kurzen Moment erleichtert gewesen zu sein, weil das wütende und Stunden andauernde Gebrüll plötzlich abebbte. „Ich dachte noch: Krass, die ist jetzt vor lauter Erschöpfung von jetzt auf gleich eingeschlafen.“ Er wird von Reanimationen hören, auch von einer auf dem Rücksitz des Familienautos, von einem Untersuchungsmarathon, von Klinikaufenthalten, von Panikattacken und posttraumatischer Belastung der Mutter, von verunsicherten Geschwisterkindern, selbst erst vier und sechs Jahre alt.

Das kindliche Herz bleibt immer wieder stehen, erweist sich letztlich als unbrauchbar

Endlich wird er bei der Diagnose landen: Ein Gendefekt, dilatative Kardiomyopathie, das kindliche Herz bleibt immer wieder stehen, erweist sich letztlich als unbrauchbar. Und dann käme er zur Rettung. Am 20. Dezember fliegt per Helikopter ein passendes Spenderherz ein. Die Operation. Eine Gefühlsachterbahn. Viele Tränen. Der Weg durch die Vordertür ist lang und nervenaufreibend.

Sechs Spritzen liegen auf einem gelben Plastikteller.

14 unterschiedliche Medikamente bekommt Lucy sechsmal täglich über eine Sonde in den Körper gespritzt.

Aber wer um die Geschichte herumgeht und an die Terrassentür in Ehrenfeld klopft, den lassen Sandra und Jens Leuschen (40) auch unkompliziert von hinten rein. Und dann geht es mittendrin los: Das Weihnachtswunder, soviel wird schnell klar, hatte seinen Preis. Die knapp ein Jahr alte Lucy ist pflegebedürftig und das rund um die Uhr. Ernährt wird sie über eine Duodenalsonde, für die Atmung muss Sauerstoff zugeführt werden, sechsmal täglich müssen Medikamente zubereitet und verabreicht werden, achtmal täglich wird inhaliert. Wegen der Immunsuppressiva, die nach der Transplantation Pflicht sind, befindet sich Lucy in Quarantäne, die gesamte Wohnung muss besonders sauber sein, um das Infektionsrisiko zu minimieren.

Unter dem Wickeltisch türmen sich Sauerstoffflaschen

Unter dem Wickeltisch türmen sich nicht nur Windeln, sondern Sauerstoffflaschen, Einmalhandschuhe, Einwegspritzen, ein mobiles Inhalationsgerät, hochkalorische Nahrung, destilliertes Wasser in Kanistern. Neben die Tür haben Sandra und Jens Leuschen einen Zettel geklebt. „Lebensrettende Maßnahmen bei Kindern“ steht drauf. Neben den Punkt „15 Thoraxkompressionen“ hat Sandra handschriftlich ergänzt: „Hände um Brustkorb, mit Daumen ein Drittel tief. Nicht zu schnell.“ Einmal in der Woche geht es zur Kontrolle in die Transplantationsklinik nach Gießen. „Zu zweit, denn Lucy erbricht sich wegen der Medikamente häufig. Alleine kann man mit ihr nicht fahren, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln selbstverständlich schon gar nicht“, sagt Sandra Leuschen.

Das ist kein Vollzeitjob, das sind zwei. Und dann sind da ja noch die beiden Geschwisterkinder. Ein kleiner Junge, eher Typ wortkarger Fußballer. Ein baldiges Schulmädchen, das gern malt. Beide hören gern die Geschichten vom Räuber Hotzenplotz, den Olchis, Herrn Bello. Das Bild von drei Paar Gummistiefeln in unterschiedlichen Größen hängt an der Wohnzimmerwand über der Couch und wer mit Leuschens redet, der begreift, dass Gerechtigkeit für sie einen großen Wert hat. Keines der Kinder soll zu kurz kommen.

Zum Kuscheln tragen die Kinder eine Maske

Natürlich, die Großen müssen Rücksicht nehmen. Dürfen nicht mehr im Elternbett schlafen, zum Kuscheln nur noch mit Maske ins Schlafzimmer kommen. Im Flur vor der Tür liegt zu diesem Zweck ein ganzer Stapel. Aber auch Lucy muss einstecken. „Sie wird häufiger krank, als wenn wir nur ein Kind hätten. Einfach weil ich meinen Großen nicht verbieten will, in den Kindergarten zu gehen, Kontakt zu anderen Kindern zu haben“, sagt Sandra Leuschen, die bis zu Lucys Geburt als Tagesmutter gearbeitet hat. Sie kämpft um jeden Zentimeter Normalität und das heißt eben auch: Lucys schwere Krankheit macht sie hier nicht zur alleinigen Aufmerksamkeits-Prinzessin.

Jans Leuschen bei der Pflege seiner jüngsten Tochter.

Jens Leuschen arbeitet eigentlich in einem Papiergroßhandel. Derzeit ist er in Elternzeit.

Wer drei kleine Kinder hat, weiß: Das ist unglaublich viel Arbeit, man schafft sie nur, wenn man einen Helm aufsetzt und richtig Gas gibt. In Leuschens Fall schafft man es nicht. Zumindest dann nicht, wenn man zur Bestreitung seines Lebensunterhalts auf Erwerbsarbeit angewiesen ist. Denn zum Geldverdienen bleibt kaum Zeit. Auch dann nicht, wenn das Elterngeld nach 14 Monaten versiegt.

Das Gesetz ermöglicht es Arbeitnehmern zwar, bis zu zehn Tage Pflegeunterstützungsgeld in Anspruch zu nehmen, wenn ein Angehöriger pflegebedürftig ist. Außerdem gibt es die Option, sich beim Arbeitgeber bis zu sechs Monate freistellen zu lassen – allerdings abgesehen vom Pflegegeld von gut 750 Euro ohne finanziellen Ausgleich. Für die Leuschens ist beides keine Ausfahrt, die sie dem Ziel auf gute Weise näherbringt. Auch Bürgergeld – für das sie ihre gesamten Konten offenlegen müssten – lehnen sie ab. Zu unsicher ist ihnen beispielsweise, ob das Amt ihre derzeitige Dreizimmerwohnung bezahlen würde.

Alle wollen Anträge, alle wollen Unterlagen

Sandra Leuschen sagt: „Dafür, dass der ganzen Familie ein krasser sozialer Abstieg droht, hat Lucy kein neues Herz bekommen.“ Die hochmoderne Medizin hat ein Problem gelöst – aber dadurch neue geschaffen. Und mit denen werden die Betroffenen allein gelassen. „Wir hatten immer ein gutes Leben, jetzt ist es ein Scherbenhaufen.“

Die Bürokratie stellt auch Menschen, die es ohnehin schwer haben, manchmal noch mehr Hürden in den Weg. Das fängt schon damit an, dass die Ansprechpartner gut verteilt in einem schwer zu durchdringenden Dschungel zu sitzen scheinen: Pflegekasse, Krankenkasse, Arzt, Reha, Sozialamt. Alle wollen Anträge, alle wollen Unterlagen. Die Chance, alles zu überblicken und alle Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten, ist gering. Dazu kommt: Viele Anlaufstellen, die Hilfe vermitteln könnten, sind heillos überlastet.

Knapp fünf Millionen Menschen waren 2021 in Deutschland pflegebedürftig. Etwa vier von fünf werden zu Hause betreut. Studien zufolge ist die Auseinandersetzung mit dem Papierkram für pflegende Eltern die größte Belastung, sie wiegt mit 80 Prozent sogar etwas schwerer als die emotionale Last. Drei von vier Eltern geben zudem an, überfordert zu sein bei dem Versuch, Familie, Beruf und Pflege unter einen Hut zu bekommen.

Sandra Leuschen trägt ihre Tochter Lucy in ihrer Wohnung in Ehrenfeld..

Sandra Leuschen sagt: „Unsere Vorstellung ist: Lucy wird das erste herztransplantierte Baby sein, das mal Omi wird.“

Auch eine Teilzeittätigkeit ist in Leuschens Situation kein gangbarer Weg. Der Gesetzgeber schreibt mindestens 15 Stunden vor. So lange müsste Sandra dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, wenn sie sich arbeitslos melden will. Und so lange müsste Jens mindestens arbeiten, wenn er während der Eltern- oder Pflegearbeit etwas Geld von seinem Arbeitgeber erhalten wollte. „Aber Lucys Situation ist zu ungewiss. Wir können nicht garantieren, dass einer von uns 15 Stunden in der Woche arbeiten kann“, sagt Jens Leuschen.

Ins Bodenlose gestürzt hat die Krankheit ihrer Tochter die Leuschens nicht. Das liegt auch am sozialen Netz, das sie von Beginn an knüpften, aber auch einforderten. „Es gibt eine Whatsapp-Gruppe mit Freunden und Familienmitgliedern. Die Hilfe ist enorm, wir haben aber auch vom ersten Tag an allen die Möglichkeit gegeben, für uns da zu sein.“ Gekochtes Essen vorbeibringen, die großen Kinder zum Spielen mitnehmen, mal zum Sport bringen, solche Sachen.

Über eine Spendenplattform hat sich das private Auffangnetz erweitert. 70.000 Euro Hilfe sind hier schon zusammengetrudelt. „Mit 100.000 Euro würden wir das hier zwei Jahre aufrechterhalten können. Das ist unser Ziel. Um Lucy zu unterstützen und als Familie zu heilen. Wir glauben fest daran, dass wir beide dann wieder arbeiten gehen können“, sagt Jens Leuschen. Wenn alles gut geht, will Jens in seinen Job als CRM-Manager in einem Papiergroßhandel mit 15 Stunden schon früher wieder einsteigen. „Aber das geht nur, wenn sich hier alles stabilisiert.“

Schläuche, Spritzen und hochkalorische Säuglingsnahrung stehen auf dem Küchenbüffet.

Bei den Leuschens stapeln sich die pflegerischen Hilfsmittel.

Campen in Roermond, eine Geburtstagsfeier im Park, ein Tag auf dem Spielplatz. Lucys Kinderwagen steht ein wenig abseits, aus einem bestimmten Blickwinkel sieht man ihr Bein rauslugen, aber keinen Schlauch. Manchmal, wenn das Schicksal ein Auge zudrückt und die Leuschens alle zusammen etwas unternehmen können, dann fühlt Jens Leuschen plötzlich eine warme Welle in sich heranbrausen. Normalität könnte man die nennen, vielleicht sogar Glück. „Meist ist der Moment nicht von Dauer, denn irgendwann piepst dann Lucys Monitor“, sagt Jens Leuschen lachend.

Die familiäre Zuversicht, die bei den Leuschens zu Hause zu sein scheint, zeigt sich von derlei Störungen allerdings weitgehend unbeeindruckt. Schließlich habe „Lucy Bock aufs Leben. Sie zieht das durch.“ Auch die durchschnittliche Lebensdauer herztransplantierter Kinder wollen die Leuschens gar nicht allzu genau studieren. „Unsere Vorstellung ist: Lucy wird das erste herztransplantierte Baby sein, das mal Omi wird“, sagt Sandra Leuschen, schmiegt ihren Kopf wieder gegen die Brust ihrer Tochter und lächelt ihren Mann an. „Wir haben immer Glück im Leben, oder Jens?“

Der Vorname des Kindes wurde auf Wunsch der Familie zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte geändert.