AboAbonnieren

Sprachprofiler zu Drohbriefen„Frauen schmähen, Männer erpressen“

Lesezeit 17 Minuten
20200122max-drommel10

 Prof. Dr. Raimund Drommel, Sprachprofiler

  1. In Erpresserschreiben, Geständnissen oder Drohbriefen verraten Verbrecher oft mehr über ihre Persönlichkeit, als sie ahnen.
  2. Raimund Drommel untersucht seit drei Jahrzehnten den „Code des Bösen“ wie er sagt, und hat schon 1400 Fälle gelöst.
  3. Warum fast alle Erpresser männlich sind und was so besonders an seinen Kölner Fällen war, erzählt er im Interview.
  4. Außerdem spricht er über Briefe von RAF-Terroristen und den Abschiedsbrief von Uwe Barschel. Einzelne Namen und Details haben wir unkenntlich gemacht, die Handlungen der Fälle aber sind nicht verfälscht.
  5. Teil 6 unserer neuen Serie „Verbrechen: Tätern auf der Spur.“

Herr Drommel, Sie haben als Sprachprofiler Briefe von Uwe Barschel analysiert und von RAF-Terroristen, Selbstanzeigen von berühmten Steuerhinterziehern gesehen. Aber Ihr erster Todesfall spielte mitten in Köln, im Unicenter. Erinnern Sie sich noch? -> Hier bisher alle erschienen Folgen der Serie lesen.Aber ja, der Fall ist bis heute einer meiner spannendsten. Eine Kölnerin, die im Unicenter ein- und ausging, hatte bei der Polizei gegen ihren Chef ausgesagt, der eine bekannte Rotlichtgröße war und Geldwäsche im großen Stil betrieb. Eines Tages hat ihr Chef sie in einen Wagen gezerrt und gezwungen, handschriftlich Briefe an die Polizei zu schreiben, mit denen sie ihre Aussage von damals entlasten sollte. Offenbar hatte sich selbst im Rotlichtmilieu auch bis zum dümmsten Halbalphabeten herumgesprochen, dass man jemanden über die Handschrift entlarven kann.Wenig später wurde in der Eifel die Leiche der Frau gefunden. Die Täter wollten sie verbrennen, wurden aber gestört und flüchteten.

Die Kölner Polizei tappte im Dunkeln und kam auf mich zu. Denn Schriftsachverständige fanden in der Handschrift der Briefe Stressmerkmale. Die Ermittler hatten den Verdacht, dass die Briefe und insbesondere die Sprache darin der Schlüssel zur Aufklärung sein könnte. Gut 30 Jahre ist das jetzt her. Sie schickten mir die Kopien der Schreiben zu, samt Vergleichsmaterial. Die Frau hatte nämlich Tagebuch geführt und Liebesbriefe geschrieben, einen solch riesigen Fundus zum Vergleichen hat man selten. Ein großes Geschenk also für den Sprachprofiler. Denn auch die Sprache ist so etwas wie eine Handschrift, die jedem Menschen eigen ist. Und Sie ahnen es: Ihre Sprache passte überhaupt nicht zusammen mit der in den Briefen, dafür aber mit der Sprache des Zuhälters. Der Mann hatte ihr vorgesagt oder vorgelegt, was sie aufschreiben sollte. Ein großer Fehler, durch den ihn die Kölner Ermittler schnappten. Er war total verblüfft, dass man ihn anhand seiner Sprache überführt hat.

Wie haben Sie ihn durch Sprachprofiling überführt?

Alles zum Thema Angela Merkel

Anhand von Kleinigkeiten, wie so oft. Zum Beispiel, als es um die Tochter der Toten ging. Eltern nennen ihre Kinder immer beim Namen, wenn sie von ihnen erzählen. „Anna spielt gerade“, „Kathrin liest ein Buch“. Entferntere Bekannte fragen eher „was macht deine Tochter?“, ohne den Namen zu nennen. In ihren Liebesbriefen schrieb das spätere Todesopfer immer den Namen ihrer Tochter Jennifer aus. In ihrem letzten – wie wir nachher wussten gefälschten – Brief schrieb sie: „Du bist nicht der Vater meiner Tochter“. Der Zuhälter hingegen formulierte in einem Brief an seine Partnerin: „Du Mutter meines Sohnes“. Das Muster passte perfekt. Außerdem hatte er eine Vorliebe für das Adverb „schwer“. Merkmale, die bei ihr nicht auftauchten, aber in dem letzten Brief. Es waren um die 40 Merkmale, die wir herausgefunden haben. Darunter auch Folgen kurzer Worte, die den meisten nicht bewusst sind. Wissen Sie zum Beispiel, ob sie „ja dann“ oder „dann ja“ schreiben?

Nein.

Es geht doch beides. „Wir können ja dann wieder nach Köln fahren“ – oder: „Wir können dann ja wieder nach Köln fahren“. Das sind unbewusste Entscheidungen, aber eine Person nutzt immer die gleiche Formulierung. Und es stellte sich heraus, dass diese Kleinigkeiten nicht kompatibel waren. Sie schrieb in ihrem Tagebuch in 100 Prozent der Fälle „ja dann“, in ihren letzten Briefen stand aber „dann ja“. So schrieb eine Partikelkombination Kriminalgeschichte.

Aber wie viele Stunden muss man über einem Text sitzen, bis einem so etwas auffällt?

Schon damals hatte ich für mein Sprachprofiling ein vom Kölner Kollegen Jürgen Rolshoven geschriebenes Computerprogramm, um solche Kleinigkeiten herauszufischen, oder auch zu zählen, wie häufig einzelne Wörter vorkommen.

Finden Sie denn immer heraus, ob eine Person einen Brief selbst verfasst oder unter Zwang diktiert bekommen hat? Auch bei schriftlichen Geständnissen?

In der Regel schon. Das ist ja ein Mittel, das im Bereich der Organisierten Kriminalität häufig benutzt wird. Dass jemand mit der Pistole am Kopf gegen seinen Willen dazu gebracht wird, etwas zu schreiben. Einen Bekennerbrief zum Beispiel. Oder einen Abschiedsbrief vor einem fingierten Suizid, der aber eigentlich ein Mord ist.

Sie untersuchen nicht nur Abschiedsbriefe oder Bekennerbriefe, sondern auch Schmäh- und Erpresserschreiben. Worauf achten Sie da?

Als Sprachprofiler erstelle ich zuerst ein Autorenprofil – das ist ähnlich wie ein Täterprofil, wie es Fallanalytiker, die sogenannten Profiler, machen. Dafür ziehe ich aus den Texten alle Merkmale heraus, die mein Sprachprofiling liefern kann.

Welche?

Zum Beispiel, ob jemand ein visueller oder auditiver Typ ist, was also der bevorzugte Wahrnehmungskanal ist. „Schaut gut aus!“ sagt ein Seh-Mensch. „Klingt gut!“, sagt ein Hör-Typ. Das ist ein wichtiges Merkmal für ein Profil. Oder ein Beispiel eines Schmähbriefs aus einem Schützenverein. Da hat jemand - zum Glück nur verbal - gegen ein anderes Mitglied scharf geschossen. In einem anonymen Brief heißt es: „Wir können einfach nicht mehr ertragen, wie du Thomas ständig vor allen bloßstellst, indem du mit ihm rummeckerst, wenn dir irgendetwas nicht passt. Ob andere Leute dabei sind, scheint dich nicht zu interessieren. Kaum zu glauben, dass er überhaupt mit dir ins Bett geht und trotz deiner hässlichen Fresse einen hochkriegt“. Da sieht man zum Beispiel gleich: Das kann nur eine Frau verfasst haben. So etwas schreibt kein Mann.

Nicht?

Nein, also es gibt natürlich Übergänge und Zwischenstufen, ausschließen kann man nichts. Aber Geschlechtsmerkmale schlagen schon unglaublich durch in der Sprache. Grundsätzlich kann man sagen: Frauen sind verlaufsorientiert, problemorientiert, sprechen über Beziehungen zu anderen Personen. Neid und Eifersucht sind eher weibliche Motive.

Und Männer?

Die wollen eigentlich meistens nur wissen: Was kommt am Ende raus? Frauen wollen Probleme diskutieren, Männer wollen Lösungen. Sie sind ergebnisorientiert, sachorientiert und faktenorientiert. Es gibt zum Beispiel unter Erpressern kaum Frauen. In der Regel ist es so: Frauen schmähen, Männer erpressen.

Könnte ich Sie täuschen, indem ich mich zum Beispiel als Frau ausgebe und Sie auf die falsche Fährte locke?

Niemand ist perfekt. Bisher scheint es -soweit ich weiß - noch niemandem gelungen zu sein. Ich habe mal eine Wette gegen ein „Spiegel“-Team gewonnen. Die haben – mich selbst zitierend – behauptet: Jedes Unternehmen habe seinen Firmenjargon. Dies gelte natürlich ganz besonders für den bekannten „Spiegel“-Stil. Wenn also ein Mitarbeiter während des Artikels – pardon ! – den Löffel abgibt, könne ein anderer Schreiber übernehmen, ohne dass man etwas merkt. Ich konnte denen aber genau die Übergangsstelle zeigen, wo der Autorenwechsel stattfand. In einem Fall vor dem Amtsgericht München war in der analogen Zeit einem Vertragstext ein Zusatz hinzugefügt worden. Nachdem ich diesen Zusatz erkannt hatte, stellte die Schreibmaschinen-Expertin des LKA Bayern fest, dass genau an dieser Stelle das Blatt neu in die Maschine eingespannt worden war. Es gibt keine perfekte Verstellung. Wenn ich nur Versatzstücke vor mir habe, kann ich aber immerhin die Schnittstellen und ggf. die verschiedenen Quellen der Textstücke ermitteln. Es ist nicht ganz so leicht, mich erfolgreich zu täuschen.

Auch nicht, indem jemand zum Beispiel einen Migrationshintergrund vortäuscht?

Das gibt es manchmal in Erpresserbriefen. Dass jemand zum Beispiel so tut, als sei er Ausländer und könne kaum Deutsch. Der ganze Brief ist dann voller Rechtschreibfehler – bis auf die Stelle, in der es um die Geldübergabe geht. Denn natürlich will der Erpresser ja an die Knete ran und dann sollte er sich da schon so klar wie möglich ausdrücken. Dann ist der ganze Slang natürlich konterkariert.

In einem Ihrer jüngsten Fälle haben Sie es mit einem neuen Phänomen zu tun bekommen.

Stimmt, durch Suchmaschinen im Internet. In den letzten Jahren gibt es immer häufiger sogenannte Fake-Bewertungen auf Google. Eine Augenarztpraxis wurde permanent schlecht bewertet, eine andere Augenarztpraxis bekam in der gleichen Zeit nur positive Beurteilungen, riesige Lobhudeleien waren das. Da witterte der geschädigte Arzt etwas und wandte sich an mich. Meine beste Mitarbeiterin, Britta Richarz, und ich fanden recht schnell heraus, dass er ein Opfer von Fake-Bewertungen geworden war.

Wie?

Zuerst haben wir alle schlechten Bewertungen gelesen und geprüft, ob die alle von ein und derselben Person stammen. Angeblich waren das alles unterschiedliche Patienten, die sich aber Nicknames gegeben haben, aber wir haben alle miteinander verglichen und festgestellt, dass alle aus einer Feder stammen. Da war schon klar, dass es Fake war.

Anhand welcher Indizien haben Sie das entlarvt?

In allen Bewertungen kamen die gleichen Sprachmerkmale vor, auch solche, die den Menschen gar nicht bewusst sind. Sie müssen wissen: Nur das, was ich kenne an mir, kann ich auch verstellen. Der Rest rutscht einfach heraus. Bestimmte Formulierungsgewohnheiten zum Beispiel, das beginnt schon bei der Zeichensetzung und der Rechtschreibung. Dieser Mann hatte die Eigenart, vor Kommata und Ausrufezeichen immer eine Leertaste zu setzen. Das fällt schon dem Laien auf. Das hat sowohl der Verdächtige in seinen Vergleichsunterlagen gemacht, als auch der Bewerter auf Google. Dann haben wir das mit den positiven Bewertungen der anderen Praxis verglichen und siehe da: Genau die negativen Eigenschaften, die der Praxis unseres Mandanten zugeschrieben wurden, wurden umgekehrt dem anderen Arzt als Lob hinterlassen – teils im gleichen Wortlaut, nur eben einmal positiv und einmal negativ.

Da wurde also aus der kurzen eine lange Wartezeit?

Vor allem für Kassenpatienten. Spaß beiseite. Ja, der eine wurde als besonders einfühlsam dargestellt, der andere als das Gegenteil. Aus: „Meinen Nachbarn habe ich Sie empfohlen“ wurde: „Meinen Nachbarn habe ich abgeraten von Ihnen“. Das sind in dieser Spezifizität ganz offenkundige Merkmale für Fälschungen. Alle Bewertungen – die positiven und die negativen – stammten von ein und demselben Autor. Wir hatten Vergleichsmaterialien von dem verdächtigen Augenarzt, Zeugnisse, die er geschrieben hat. Wir haben ihn dann als Schädiger entlarvt. Ein Gericht stoppte seine Kampagne dann auf der Grundlage unseres Gutachtens.

Woran sehen Sie, dass jemand lügt?

Eine Glaubhaftigkeitsanalyse ist sehr schwer. Aber man kann den Wahrheitsgehalt von Schriftstücken erahnen. Zum Beispiel bei Whistleblowern, wenn die Strafverfolgungsbehörden schon genau wissen wollen, ob etwas gelogen ist oder nicht. Wenn jemand besonders dick aufträgt, dass er gewiss die Wahrheit sagt, deutet das eher auf eine Lüge hin. Das kennen Sie vom Baron Münchhausen. „Glauben Sie mir, alles, was ich sage, stimmt“. Wenn einer so oft die Wahrheit beteuert, läuten bei mir schon die Alarmglocken. Der Rest ist professionelle Glaubhaftigkeitsanalyse.

Haben Sie schon Erpresser erlebt, bei denen Sie genau wussten: Der blufft! Das ist eine Lüge, der hat überhaupt nichts in der Hand?

Ja, diese Frage ist für die betroffenen Unternehmen und Personen ja meistes die allerwichtigste. Die Antwort liefert eine Gefahrenanalyse: Macht er es, oder macht er es nicht? Das wollen die Geschädigten wissen. Und es ist schon so: Die meisten Erpressungen sind leere Drohungen, bloße Fakes. In über 90 Prozent der Fälle sind zudem Einzeltäter am Werk, aber meistens schreiben sie „wir“, weil eine Bande ein größeres Bedrohungspotenzial hat.

Gibt es eigentlich noch die Klebezettel auf Erpresserbriefen?

Nein, schon lange nicht mehr. Die gab es damals im „Derrick“ und in „Der Alte“, damit auch die nicht so kundigen Fernsehzuschauer mitbekamen, dass es um eine Erpressung ging. Johanes Heesters ist tot und war zudem lieb. Also wird kaum noch jemand auf Klebetexte zurückgreifen. Interessant: In den 70-er und 80-er Jahren meinten viele räuberische Erpresser, ihr Erpresserbrief müsse so aussehen wie die Briefe in den TV-Krimis. Andere kannten sie nämlich nicht.

Sie sind der einzige Sprachprofiler weltweit. Was muss jemand können, um gut zu sein in Ihrem Beruf?

Was u. a. der BGH schon von Sachverständigen verlangt: ein einschlägiges Studium, hier der Sprachwissenschaften oder Germanistik, eine zusätzliche Fachausbildung und eine langjährige Berufserfahrung. Von Vorteil wären zusätzlich ein Studium der Psychologie und der Kriminalwissenschaften. Vor allem aber braucht man eine Neigung zu, und Eignung für diesem Beruf, wozu auch ein Sinn für Details gehört. Das ist übrigens auch ein Merkmal, das wir untersuchen: Ist eine Person eher am großen Ganzen interessiert oder eher detailorientiert? Wir sollten detailversessen sein, denn gerade die Einzelheiten verraten ja die Menschen. Und Detailorientiertheit gehört zu den Dingen, die man nicht lernen kann. Entweder man ist es, oder man ist es nicht. So wie man entweder ein eher ängstlicher oder angstfreier Typ ist. Man kann Menschen nicht umprogrammieren.

Wie schreibt jemand, der Angst hat?

Wir kennen doch alle diesen Typ, der Angst hat, sobald er aus dem Uterus raus ist, ist er ängstlich bis an sein Lebensende. Es gibt Leute, die sich sogar am Ende eines anonymen Briefs mehrmals dafür entschuldigen, dass sie ihn überhaupt geschrieben haben. Das Gegenteil ist der „Jetzt komme ich!“-Typ, ein Draufgänger, völlig angstlos, der mehr Schein als Sein darstellt und eine Riesen-Show abzieht. Solche Menschen würden den anonymen Brief am liebsten noch unterschreiben, weil es ihnen gegen den Strich geht, dass ihre Persönlichkeit nicht herauskommt. Wenn Sie nur zählen, wie oft das Wort „Ich“ vorkommt, sehen Sie, ob jemand ein Egomane ist oder sehr zurückhaltend.

SMS und Whatsapp-Nachrichten verknappen seit ein paar Jahren unsere Sprache, Autovervollständigung nivelliert jede Wortwahl. Erschwert das Ihre Arbeit?

Absolut, das gebe ich gerne zu. Da kommen Forensische Linguisten an ihre Grenzen, wenn wir keine zusammenhängenden Sätze, sondern nur noch Emojis, oder Satzfetzen haben. Aber auch dabei kristallisieren sich faszinierende Unterschiede heraus, wie eine Vorliebe für bestimmte Emoji-Typen oder -Häufigkeiten oder auch für gewisse Abkürzungen. Auch SMS-Schreiber können eben nicht aus ihrer sprachlichen Haut. Dennoch erschweren diese Kurz-Nachrichten meine Arbeit: Ich behaupte zwar immer, für den Sprachprofiler sei in seiner Sprache der ganze Mensch gegenwärtig. Diese Nachrichten sind aber keine Produktionen der ganzen Sprache.

So wie ein Pathologe an einer abgetrennten Hand nicht sehen kann, ob jemand erstochen oder erschossen wurde?

Ja, genau.

A propos einfache Sprache: Sie haben vor langer Zeit mal Sätze von Berti Vogts analysiert …

So ist es. Ich habe Äußerungen von ihm verglichen, die zehn Jahre auseinander lagen. Sein Individualstil war dabei fast unverändert, und es tauchten sogar die wortwörtlich gleichen Phrasen wieder auf. Am Ende folgte dann jeweils die Korschenbroicher Kontaktpartikel „ja“, etwa in dem Satz: „Ich bin nicht der Mülleimer der Nation, ja.“

Der Wortschatz hat sich mit der Zeit auf einem überschaubaren Level eingependelt?

Kann man so sagen. Er wollte verstanden werden von den Leuten. Daher wählte er die einfache Sprache. Das ist nachvollziehbar.

Ist das denn normal, dass sich Sprache im Laufe des Lebens nicht groß verändert?

Eher nicht. Deshalb wünschen wir uns auch Verglei­­­­chsmaterial, das möglichst aktuell und nicht Jahre alt ist. Trotzdem bewahren sich manche Merkmale noch sehr lange. So wie das sogenannte Code Switching, wenn man zwischen Sprachen wechselt. Ich habe zum Beispiel zwei Jahre in Spanien gelebt und wie Sie vielleicht auch schon gemerkt haben, lernt man in einer Fremdsprache zuerst die Schimpfwörter. Spanisch ist ja sehr reich an Flüchen. Und die rutschen mir immer noch manchmal durch, auch wenn es Jahrzehnte her ist.

Haben wir also so etwas wie eine sprachliche DNA, die ein Leben lang bleibt?

Das ist natürlich nur eine Metapher – ebenso wie der sprachliche Fingerabdruck –, mit der man sehr vorsichtig sein sollte. Eine DNA bleibt ja immer gleich. Das individuelle Grundprogramm der Sprache bleibt zwar ebenfalls erhalten – Berti Vogts wird nie schreiben so wie Angela Merkel –, wird aber i.d.R. über die Zeit geupdated. Dies ist vergleichbar mit der Entwicklung der Windows-Programme, von Windows 95 bis heute. Trotz der Veränderungen bleibt das Programm immer Windows und unterscheidet sich z.B. von Linux. Ferner ist Sprache ist icht so trennscharf wie eine DNA, sie passt sich Situationen an. Wir schreiben einen Brief an das Finanzamt mit anderen Worten als einen Liebesbrief.

Ehrlich?

Sie werden lachen. In einem meiner ersten Fälle habe ich einen Polizisten aus dem Rhein-Sieg-Kreis kennen gelernt. Der schrieb zwölf Jahre lang Verhörprotokolle und hat sich diese Sprache komplett zu eigen gemacht. Er war so ein eingefleischter Polizist, dass er nur noch im Protokollstil schrieb und sprach. Dann schrieb er einen Brief an seine Freundin, den er mit den Worten „mehr kann ich dazu nicht sagen“ beendete. Und an eine Metzgerei schrieb er: „Meine Frau hat Ihre Steaks ordnungsgemäß zubereitet.“ Das war schon lustig.

Sie haben mit kleinen und großen Verbrechern zu tun, bekannten und unbekannten Fällen. Haben Sie Situationen erlebt, in denen es für Sie selbst gefährlich wurde?

Die Barschel-Affäre war nicht ohne. Uwe Barschels Witwe Freya hatte mich gebeten, einen seiner letzten Briefe zu begutachten. Darin soll Barschel vorgeschlagen haben, alle Schuld in der U-Boot-Affäre auf sich zu nehmen. Und ich sollte untersuchen, ob dieser Brief, wie Freya Barschel glaubte, authentisch war. Die Bundesregierung behauptete damals, dass es eine Stasi-Fälschung sei. Ich kam aber zu dem Ergebnis: Der Brief war echt. Eines Tages hatte sich jemand an den Radbefestigungen meines Autos zu schaffen gemacht. Auf einem Autobahnzubringer passierte es dann, dass ein Rad abfiel. Alle übrigen Radschrauben waren ebenfalls gelockert.

Wer war das?

Ob es „Schlapphüte“ waren, vermag ich nicht zu sagen. Ich vermute, es waren Organisationen, Leute, die nicht wollten, dass ich da weiter recherchiere. Es war eine Warnung. Die Umstände von Barschels Tod wurden ja bewusst nie aufgeklärt. Dass ich noch lebe, verdanke ich wohl der Tatsache, dass all jene, die mich gerne ausschalten wollten, mich für intelligent genug hielten, wichtige, für sie gefährliche Dokumente in der analogen Zeit bei einem Anwalt und in der digitalen Zeit in einer Cloud abzulegen. Was aber OK und RAF betrifft, so habe ich einfach Glück gehabt, wie auch nach der Lockerung meiner Radmuttern im Zusammenhang mit der Barschel-Affäre.

Und wie waren die Zeiten, als Sie Kassiber der RAF-Mitglieder aus den Gefängnissen gelesen haben?

Sehr bewegend und interessant. Natürlich hat die RAF, damals in der dritten Generation Ende der 80-er, mitgekriegt, dass ich deren Nachrichten auswertete Briefe sehe. Die haben in spannenden Sprachcodes kommuniziert, mit Kommentaren zur bundesweit ausgestrahlten TV-Serie „Lindenstraße“, zu Malern wie Kandinsky, mit Kochrezepten, Bachrezepten, Schnittmustern für Kleidern. „Man nehme dies, man füge das hinzu“ und irgendwo und irgendwann knallte es dann. Spannend waren die gemeinsamen Quellen. So hatte eine Gefangene in Köln-Ossendorf genau die gleichen Bücher in der gleichen Anordnung im Regal stehen wie ein Gefangener in Weiterstadt. Darunter auch Bücher zu Mythen und anders definierten Jahreszeiten von Indianern. Das war ein ausgeklügeltes Kommunikationssystem zwischen den Inhaftierten untereinander und den frei Operierenden. So haben die damals miteinander geschrieben. Aber irgendwann nach Bad Kleinen war dann auch meine Mission beendet, zumal im Rucksack Birgit Hogefelds auch noch Informationen gefunden wurden, die meine Auswertungen zum Code der RAF bestätigten. Das wäre vielleicht auch mal ein Thema für ein Buch im Dumont-Verlag. Erst viel später wurde mir gesagt, dass ich es auf die Todesliste der RAF geschafft habe. Als einziger Nicht-Prominenter.

Respekt.

Vielen Dank.

Sie erinnern sich zum Teil noch an Details, die jahrzehntealt sind. Offenbar lässt Sie keiner Ihrer großen Fälle los. Dabei gibt es einen, der bis heute nicht aufgelöst ist und in Köln seinen Ursprung nahm. Möchten Sie darüber sprechen?

Oh ja, ein ebenfalls sehr tragischer Fall, über den auch der KStA damals sehr ausführlich berichtet hat. Es handelte sich um einen aufstrebenden Kölner Rechtsanwalt, Schüler der legendären Professoren Hirsch und Kohlmann, mit denen ich als Gastprofessor am Kriminalwissenschaftlichen Institut der Uni Köln zusammenarbeiten durfte. Er starb unter mysteriösen Umständen. An einem Freitagnachmittag herzte er kurz seine kleinen Kinder, brach dann zu einen Supermarkt auf, um noch kurz Kaffee für seine Kanzlei zukaufen, und ward nicht mehr gesehen. Ein paar Tage später wurde er in Südfrankreich tot in seinem Auto aufgefunden – gestorben durch Abgase, die ins Wageninnere geleitet wurden. Ermittler fanden sehr seltsame letzte Briefe von ihm, an seine Schwester und an seine Familie, die ich dann untersucht habe. Es gab Zweifel an der Echtheit oder an der Erstellung ohne Einwirken Dritter, aber keine Verdächtigen, deren Schriftsätze ich mit den Abschiedsbriefen hätte vergleichen können. Ich kann ja auch nicht aus dem Kaffeesatz lesen. Es sah aber so aus, als ob die Marseiller Polizei, am Ort dieser bekannten Drehscheibe des Waffenhandels, nicht wirklich ein Interesse an der Aufklärung hatte. Das ist einer der wenigen Fälle, die bis heute nicht aufgeklärt sind.

* Einzelne Namen und Details sind unkenntlich gemacht, die Handlungen der Fälle aber sind nicht verfälscht.

Auch in Corona-Zeiten ist Raimund Drommel im Einsatz. Die Texte der von ihm entlarvten Phishing-Mails sind zwar sprachlich nicht mehr mit denen der Nigeria Connection zu vergleichen, aber in Form und Grammatik noch weit von perfekten E-Mails entfernt

Webseiten des Interviewten:

www.sprachprofiling.com

www.anonyme-briefe.de

Drommels letztes Fachbuch: Sprachprofiling – Grundlagen und Fallanalysen zur Forensischen Linguistik, Berlin 2015