AboAbonnieren

Ruth G. starb einsam und unbemerkt„Aus der Wohnung hat es ja immer gestunken“

Lesezeit 5 Minuten
Einsame Tote

Immer wieder kommt es vor, das ein Mensch verstirbt und niemand etwas davon mitbekommt – eine Spurensuche in Chorweiler

  1. Immer wieder kommt es vor, dass ein Mensch stirbt und wochenlang nicht vermisst wird. Anna P. und Ruth G. sind zwei von ihnen.
  2. Im Polizeisprech heißen diese Fälle „Person hinter Tür“. Sie stehen exemplarisch für ein Phänomen, das immer häufiger vorkommt.
  3. Doch wie kann so etwas sein? Warum kann der Tod eines Menschen, eines Nachbarn, eines Verwandten so lange unbemerkt bleiben?
  4. Teil 5 unserer neuen Serie „Verbrechen: Tätern auf der Spur.“

Wann Anna P. gestorben ist, lässt sich nicht mehr feststellen. Ihr Leichnam ist so stark verwest, dass die Polizei sogar Mühe hatte, die Tote zu identifizieren. Knapp drei Wochen soll die 72-jährige Frau tot in ihrer Wohnung in Köln-Chorweiler gelegen haben. Erst dann informierte eine besorgte Nachbarin die Polizei, weil sie Anna P. länger nicht gesehen hatte. Der Fall ist schon einige Jahre her, aber er steht exemplarisch für ein Phänomen, das nach den Erfahrungen des Kölner Tatortreinigers Kalle Giesenkirchen immer häufiger vorkommt. „Manchmal liegt ein Toter mehrere Tage oder Wochen unbemerkt da“, sagt Giesenkirchen im Interview für die KStA-Serie „Verbrechen – auf der Spur der Täter“. Diese gesellschaftliche Ignoranz stimme ihn traurig“, sagt Giesekirchen. „Das erschreckt mich immer wieder.“ -> Hier alle Folgen der Serie lesen!

Über eine Drehleiter stiegen Feuerwehrmänner durch das Wohnzimmerfenster im sechsten Stock, sie fanden die Leiche von Ruth G. inmitten ihrer vollkommen zugemüllten Wohnung, zwischen Taschen, Säcken, Kleidung und Lebensmittelresten. Tauben und Ungeziefer bevölkerten die drei Zimmer. Den kleinen, abgemagerten Hund und den Papagei der 72-Jährigen retteten die Einsatzkräfte und brachten sie ins Tierheim. Laut Polizei deutete alles darauf hin, dass die Rentnerin eines natürlichen Todes gestorben war. Nur, warum hat niemand schon früher etwas mitbekommen?

Auch Tage später noch stinkt es bestialisch nach Verwesung

Ein Hochhaus mitten in Chorweiler, 14 Etagen, 74 Mietparteien, etwa 150 Bewohner - Deutsche, Türken, Russen, Iraner, Vietnamesen. Sobald sich die Fahrstuhltür im sechsten Stockwerk öffnet, steigt saurer, beißender Geruch in die Nase. Obwohl die Leiche schon vor drei Tagen weggebracht wurde, stinkt es bestialisch nach Verwesung. Auf Türklingeln reagieren die Bewohner mit einem zaghaften „Hallo?“, dann dreht sich ein Schlüssel im Schloss, vorsichtig wird die Tür einen Spalt geöffnet. „Aus der Wohnung hat es ja immer gestunken, wegen der Hunde und dem Müll oder so“, berichtet eine Nachbarin. „Das fiel einem schon gar nicht mehr auf.“ Wann sie Ruth G. das letzte Mal gesehen habe? „Vor drei Wochen ungefähr. Seit zehn Tagen klemmte ein Brief in ihrer Wohnungstür. Ich dachte, sie sei vielleicht in Urlaub.“

Alles zum Thema Feuerwehr Köln

Eine Tür weiter erzählt ein junger Mann: „Meine Mutter hatte auch schon überlegt, mal die Polizei zu rufen wegen dem Geruch, aber sie wollte lieber noch ein bisschen warten.“ Warten worauf? Der Mann hebt die Schultern und lässt sie wieder sinken. Keine Ahnung.“

Das könnte Sie auch interessieren:

Fast jeder im Haus kannte Ruth G. vom Sehen, und fast jeder habe die allein lebende Frau gemieden, erzählt Petra Berner (Name geändert) eine Etage tiefer. Jeden Freitag putzt Berner das Treppenhaus. Wohl als Einzige hatte die 46-Jährige regelmäßigen Kontakt zu der Rentnerin. Sie war es auch, die am Freitag die Polizei gerufen hat. „Ruth war immer sehr freundlich zu mir. Sie stand fast täglich vor meiner Wohnungstür und wünschte mir alles Gute oder gab mir Hühnerklein für meinen Hund. Ich habe mich immer höflich bedankt und das Zeug anschließend weggeworfen. Das konnte man keinem Hund vorsetzen.“

Ihre Zuneigung galt ihren drei Hunden

Oft saß Ruth G. auf einer Steinmauer vor dem Hochhaus, manchmal nur mit Nachthemd und Pantoffeln bekleidet. Ihr kleiner Malteser Sissi wich ihr nicht von der Seite. Ein Messi sei sie wohl gewesen, sagt Berner. Nachbarn beobachteten hin und wieder, wie die 72-Jährige die Müllcontainer vor dem Haus durchwühlte, Kleidungsfetzen, Teppiche und Essensreste herausangelte und in ihre Wohnung schleppte. „Ich habe sie mal gefragt, ob ich ihr bei irgendetwas helfen könnte“, erzählt Andrea Berner, „aber sie hat abgelehnt, sie wollte das nicht.“ G.s ganze Zuneigung habe ihren drei Hunden gegolten. „Meine Hunde sind meine Kinder“, habe sie immer gesagt. Dabei soll Ruth G. auch eine Tochter und zwei Enkel haben, aber niemand im Haus weiß Näheres. „Zwei Hunde musste Ruth vor einigen Monaten einschläfern lassen“, sagt Berner. „Ich habe den Eindruck, von da an ging es bergab mit ihr.“

Das könnte Sie auch interessieren:

Ein Trend zur Vereinsamung in der Gesellschaft lässt sich auch an der Einsatzstatistik der Kölner Feuerwehr ablesen. Ein Hinweis ist die hohe Zahl von Einsätzen wie in Chorweiler mit dem Stichwort „Person hinter Tür“, im Feuerwehr-Jargon "P-Tür" genannt. Zwischen zwei- und dreimal pro Tag rückten die Retter im Vorjahr in der Stadt aus, weil besorgte Anrufer über Notruf meldeten, dass sie ihren Nachbarn längere Zeit nicht gesehen haben. In den Vorjahren lag die Zahl teilweise noch deutlich höher. Meistens seien es ältere Menschen, die vermisst gemeldet würden, sagt eine Feuerwehrsprecherin. „Es sind aber auch in größerer Anzahl jüngere Personen und Personen mittleren Alters vertreten“ – was sich auf den höheren Anteil von Single-Haushalten im Vergleich zum ländlichen Bereich zurückführen lasse. Überhaupt seien die Einsätze „P-Tür“ ein Großstadtphänomen, sagt ein Feuerwehrmann aus der Innenstadt. In ländlichen Gegenden sei das „fast kein Thema“ - womöglich, weil dort die nachbarschaftliche oder familiäre Hilfe besser funktioniere.

Auch der Polizei und der Stadt Köln waren die desaströsen Zustände in der Wohnung von Ruth G. bekannt. Einige Monate vor ihrem Tod statteten Beamte beider Behörden der 72-Jährigen einen Besuch ab, „um rückständige Forderungen einzutreiben“, wie ein Stadtsprecher bestätigt: „Messi-Wohnungen erleben wir häufiger. Wenn Kinder und Jugendliche in dem Haushalt leben, informieren wir sofort das Jugendamt. In diesem Fall haben wir die Hausverwaltung in Kenntnis gesetzt.“ Frau G. sei ja eine erwachsene, selbstbestimmende Frau gewesen.