Ingo von Westphal (55) ist einer von drei Experten des Landeskriminalamts, die für die Polizei in NRW Phantombilder erstellen.
In diesem ausführlichen Interview erklärt er, warum die mutmaßlichen Täter auf den Bildern meist grimmig dreinschauen und fast alle Phantombilder schwarz-weiß sind.
In seinem Arbeitsalltag trifft von Westphal auf Opfer von Gewalt und anderen schweren Verbrechen. Oft sind die Menschen traumatisiert.
Teil 12 unserer neuen Serie „Verbrechen: Tätern auf der Spur.“
Ingo von Westphal (55) ist einer von drei Experten des Landeskriminalamts (LKA) in Düsseldorf, die für die Polizei in NRW Phantombilder erstellen. Gerufen werden er und seine Kollegen von den einzelnen Polizeibehörden. Weil Öffentlichkeitsfahndungen mit Phantom- oder Echtbildern einen tiefen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Täter darstellen, sollen Bilder nur bei Straftaten von „erheblicher Bedeutung“ zur Anwendung kommen. -> Hier alle Folgen der Serie lesen!Herr von Westphal, gibt es das Gesicht des Bösen?Nein, das gibt es nicht. Obwohl... ich sag‘ mal so: Auf vielen Phantombildern schauen die Täter ziemlich grimmig drein. Das liegt daran, dass die Zeugen oder Geschädigten, die denjenigen beschrieben haben, natürlich davon ausgehen: Der hat etwas Böses getan, der kann gar nicht lieb aussehen. Und dieses Negative muss dann für den Zeugen in dem Bild auch irgendwie zum Ausdruck kommen.Greifen Sie in solchen Fällen korrigierend ein?
Nein, ich bin völlig neutral, ich nehme keinen Einfluss auf das Bild. Ich setze nur das um, was der Zeuge möchte. Eine Zeugin sagte mir mal: Der Täter hatte ein rundes Gesicht. Also habe ich ein rundes Gesicht ausgewählt, und sie sagte: Nein, noch runder. Da habe ich es noch runder gemacht. Am Ende hatten wir einen Kreis. Sie wollte eben unbedingt, dass jeder sieht, dass das Gesicht rund ist. Das erleben wir oft: Zeugen verstärken das Merkmal, das bei ihnen am meisten haften geblieben ist. Deshalb sehen einige Phantombilder auch fast aus wie eine Karikatur. Das muss aber nicht schlecht sein. Wir erkennen Angela Merkel ja auch auf einer Karikatur wieder. Ich sage dem Zeugen jedenfalls nie: So sieht keiner aus, das müssen wir anders machen.
Es geht also bei Ihrer Arbeit gar nicht unbedingt um Passbild-Qualität?
Nein. Wir können kein Passbild erstellen, wir wollen mit dem Phantombild den Typ des Täters wiedergeben. Das Bild ist ja auch nur ein Puzzleteil bei der Öffentlichkeitsfahndung. Hinzu kommen weitere Informationen wie: Was ist passiert? Wo ist es passiert? Wie groß ist der Täter? All das ergibt ein Gesamtbild.
Wenn es das typische Verbrechergesicht nicht gibt – gibt es dann eine Nase, ein Ohr, eine Frisur, die am häufigsten ausgewählt wird?
Nein, das geht querbeet. Teilweise erstellen wir auch eine Frisur, indem wir drei oder vier Frisuren kombinieren. Da passt dann die Seitenpartie von der einen zum Deckhaar von der anderen, gepaart mit einer Locke von einer dritten.
Warum sind eigentlich fast alle Phantombilder schwarz-weiß?
Für den Zeugen ist es einfacher, wenn wir nur mit hell und dunkel arbeiten. Hautfarbe Gesichtsfarbe, Augenfarbe... das sind Dinge, die oft schwer zu benennen sind. Wenn ein Täter hellblaue Augen hat, der Zeuge sich aber an hellgrüne erinnert, verfälscht das das Bild schon. Gibt es natürlich farbliche Besonderheiten, weil zum Beispiel jemand knallrote Haare mit einer gelben Strähne trug, dann ist das schon wieder so auffällig, dass wir ein Farbbild erstellen würden.
Sie zeichnen Ihre Bilder aber nicht mit der Hand, oder?
Nein, gezeichnet hat man ungefähr bis in die 70er Jahre. Die ersten Phantombilder stammen aus dem Wilden Westen, sie hingen mit Einschusslöchern am Saloon. Heute machen wir alles am Laptop. Mit einer Bildbearbeitungssoftware.
Was sind die Vorteile?
Ein Gesicht zu beschreiben, ist grundsätzlich sehr schwierig. Einfacher ist es, ein Gesicht wiederzuerkennen. Wir arbeiten mit einem Bildbestand von mehr als 5000 Gesichtern – alle am Computer erstellt. Aus Datenschutzgründen dürfen wir keine Echtbilder verwenden. Wir haben in der Datenbank auch Tattoos und Piercings, Brillen, Hüte, Kappen, Kopftücher, Hoodies. Die Bilder werden fortlaufend den aktuellen Moden angepasst.
Wie hoch ist Ihre Trefferquote? Wie viele Täter werden anhand eines Phantombildes gefasst?
Für eine Veröffentlichung benötigt die Polizei erst einmal einen richterlichen Beschluss. Die Trefferquote liegt dann bei ungefähr 20 bis 25 Prozent.
Wie gehen Sie genau vor bei der Phantombilderstellung?
Wir unterteilen erst einmal grob in männlich/weiblich, in ethnische Gruppen wie zum Beispiel mitteleuropäisch, südländisch oder osteuropäisch und nach dem Alter. Dann wird dem Zeugen oder Geschädigten ein entsprechendes Bild vorgelegt und nach seinen Angaben grafisch bearbeitet. Der sagt dann sowas wie: „So, wie der die Haare hat, nur kürzer“ oder „Diese Haare, aber die Gesichtsform von dem anderen“. Danach geht es in die Experimentierphase, wo wir die Bilder zusammensetzen. Das funktioniert wie trial and error. So eine Montage kann auch schon mal drei Stunden dauern. Wir machen auch Leichenbild-Aufbereitungen. Wenn wir das Foto einer Wasserleiche haben von einem unbekannten Toten, können wir das oft nicht so, wie es ist, an die Zeitung geben. Wir bearbeiten das Bild dann vorher. Wir hatten mal eine Bahnleiche, deren Gesicht in zwei Hälften geteilt war. Die Hälften haben wir am Laptop wieder zusammengefügt und die Gesichtsteile weiter bearbeitet, bevor wir das Bild in die Öffentlichkeitsfahndung geben konnten.
Können Frauen besser beschreiben als Männer – oder umgekehrt?
Da gibt es keinen Unterschied, höchstens im Vergleich zu Kindern. Die beschreiben objektiver, sachlicher. Erwachsene legen mehr Wertung rein, zum Beispiel: „Der Täter sah gut aus“ oder „Der hat böse geguckt“.
Mit welchen Zeugen arbeiten Sie am liebsten?
Der Optiker kann natürlich wunderbar die Brille eines Täters beschreiben. Eine Friseurin beschreibt die Frisur bis ins Detail. Aber am liebsten ist mir eigentlich die ältere Dame aus dem Ruhrgebiet: Die redet so, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Nicht verstellt, nicht kompliziert. Das kann man oft sehr gut umsetzen.
Manchmal wundert man sich, wie genau ein Zeuge einen Täter beschreiben kann, obwohl er ihn vielleicht nur ein paar Sekunden gesehen hat – und das noch in einer Stresssituation. Wie ist das zu erklären?
Dazu gebe ich Ihnen ein Beispiel: Sie sitzen im Café, jemand sitzt Ihnen gegenüber, und abends werden Sie gefragt: Wer war denn da im Café? Dann sagen Sie: Weiß ich nicht mehr. Ein Mann? Eine Frau? Keine Ahnung. Hat sich Ihr Gegenüber aber eine Tasse Kaffee über die Hose gekippt, erkennen Sie den auch drei Tage später in der Stadt noch wieder. Weil ein Ereignis eingetreten ist, das nicht in den normalen Ablauf passt. Unser Gehirn ist so konstruiert, dass wir uns so etwas merken. Anders kann es sein, wenn jemand mit einer Waffe bedroht wurde. Dann richtet sich der Fokus des Geschädigten eher auf die Waffe als auf das Gesicht, weil von dem Gesicht in dem Fall keine Bedrohung ausgeht.
Wie kriegen Sie Zeugen zum Reden, die sich mit ihrer Erinnerung besonders schwer tun?
Meistens machen wir erstmal ein Vorgespräch, ein Warm up. Wir lernen uns erstmal kennen. Ich versuche, mich in den Zeugen einzufühlen und zum Beispiel herauszufinden: Muss ich besonders behutsam mit ihm umgehen? Kann man auch mal einen Scherz machen? Manchmal gehen wir auch in Gedanken zusammen an den Tatort zurück, ich lasse mir dann erzählen, wie derjenige den Täter in welcher Situation gesehen hat: Von oben? Von unten? Von hinten? Von der Seite? Manchmal kommen dann die Erinnerungen zurück.
Sie treffen auf Opfer von Gewalt und anderen schweren Verbrechen. Oft sind die Menschen traumatisiert. Wie wichtig ist Empathiefähigkeit für Ihren Beruf?
Empathiefähigkeit ist ein ganz wichtiger Faktor bei der Erstellung eines Phantombildes. Zwischen mir und dem Zeugen steht auch kein Schreibtisch dazwischen, keine Barriere. Das gibt gleich ein ganz anderes Gefühl von Nähe oder Vertrautheit. Die Frage ist ja: Wie bekomme ich die Frau, die gestern brutal vergewaltigt worden ist, dazu, mit mir zu arbeiten und sich dazu auch noch an den Täter zu erinnern, den sie eigentlich vergessen will? Dafür braucht man in der Tat ein besonderes Fingerspitzengefühl. Wir machen auch Fortbildungen in den Bereichen Vernehmung, Vernehmung von Kindern und Jugendlichen, Umgang mit traumatisierten Opfern oder Opfern von Sexualdelikten.
Fahren Sie zu den Zeugen oder Opfern nach Hause?
In der Regel treffen wir sie in der zuständigen Polizeibehörde. Wenn einer mit Messerstichen oder Schussverletzungen im Krankenhaus liegt, machen wir das auch auf der Intensivstation. Ist jemand behindert, nicht gut zu Fuß oder hat vielleicht ein Kind, das er betreuen muss, fahren wir auch schon mal zu den Menschen nach Hause. Machen wir aber nicht so gerne, weil wir da nicht immer die nötige Ruhe haben. Ich war mal in Dortmund bei einer älteren Dame, die hatte einen Kuchen für mich gebacken, der stand schon auf dem Tisch. Dann kam erst die Nachbarin hinzu, dann die Kinder, und plötzlich standen zehn Leute in der Küche, und alle wollten gucken, was jetzt passiert.
Ist Ihnen schon mal jemand zusammen gebrochen?
Ja. Klar, wir müssen auch mal in den Arm nehmen können. In Dortmund ist jemand weinend unter meinen Tisch gekrochen und kam nicht mehr hervor. In Hagen hat mir jemand auf den Laptop gespuckt. Für ihn stellte das Anspucken die größte Missachtung dar, die man einer Person gegenüber ausdrücken kann. Er hat sich sofort bei mir entschuldigt, er war einfach so emotional. Für mich war es in dem Moment das Signal: Wir hatten den Täter auf dem Bild offenbar sehr gut getroffen.