Systemsprenger in Köln und RegionLeben zwischen Heim, Psychiatrie und Pflegefamilie
- 4000 Kinder und Jugendliche fallen in Deutschland jährlich durch alle (Hilfe-)Raster. In Köln und Region sprechen Experten von etwa zehn Jungen und Mädchen, die wirklich extremes Verhalten an den Tag legen.
- Manche können durch ein großes Hilfs-Netzwerk irgendwann aufgefangen werden. Andere verweigern jede Hilfe und landen auf der Straße oder in Haft.
- Was sind die Gründe dafür, wenn Minderjährige immer wieder Feuer legen oder einen Eimer mit Erbrochenem über ihrem Erzieher auskippen?
- Wir haben mit Kölner Experten vom Jugendamt, der Psychiatrie und einem Jugendhilfeträger gesprochen.
Köln – Es geht um jenseits des Vorstellbaren. Um die Grenzen der Belastbarkeit. Und um Ohnmacht. Aushalten, immer wieder aushalten. Was der oscarnominierte Film „Systemsprenger“ von Nora Fingerscheidt seinen Zuschauern zumutet, verlangen geschätzte 4000 junge Menschen in Deutschland ihrer Umwelt ab: Die Erkenntnis, dass es Mädchen und Jungen gibt, denen unsere Hilfesysteme nicht helfen können. Die wegen ihres extremen Verhaltens überall rausfliegen. Die hin und her wechseln zwischen Psychiatrien und Pflegefamilien, Wohngruppen und Heimen, Straßen und – wenn sie über 14 Jahre sind – der Justiz.
Verschiedene Studien kommen zu dem Ergebnis, dass ihr Anteil innerhalb der stationären Jugendhilfe, also der Heimerziehung, bei fünf bis sieben Prozent liegt, etwa vier Prozent von ihnen sind jünger als zehn Jahre: so genannte Systemsprenger.
Ein ungeliebter Begriff
„Der Begriff ist problematisch“, sagt der stellvertretende Jugendamtsleiter der Stadt Köln, Klaus-Peter Völlmecke. „Weil er suggeriert: Da ist ein böses Kind, das ein System an seine Grenzen bringt und damit impliziert, dass das Kind das Problem sei.“ „Weil er im Grunde kein Kind beschreibt, sondern einen Prozess, der sich zwischen vielen Personen und Hilfesystemen abspielt, die vielleicht nicht gut ineinander greifen“, sagt die Geschäftsführerin des Jugendhilfeträgers „Auf Achse/KJSH e.V.“ Cordula Götz. „Weil er nicht die massiven seelischen Verwundungen betont, die sich hinter diesen vermeintlich chaotischen Kindern verbergen“, sagt Stephan Bender, Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Köln.
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Einig sind sich die Kölner Expertinnen und Experten auch, dass es für die geschätzten zehn jungen Menschen, die in unserer Region pro Jahr durch alle Raster fallen – weil sie radikal Regeln brechen und sich besonders herausfordernd verhalten – keine Patentlösung gibt. Sondern dass ein stark kooperierendes Netzwerk aller Beteiligten aus den Fachbereichen Jugendhilfe, Jugendamt, Psychiatrie und Justiz gefragt ist – mit regelmäßigen Fallkonferenzen, unkonventionellen Angeboten und möglichst mindestens einer Fachkraft, die den Kontakt zu dem betroffenen Kind hält.
„Schließlich ist Kontinuität das A&O innerhalb eines Hilfesystems, das von einem Zuständigkeitswechsel verschiedener Institutionen, Dienste und Träger geprägt ist“, sagt Völlmecke. Und damit immer wieder Brüche, also Vertrauensverluste, Bindungsabbrüche und Abweisungen erzeugt.
Haltlos und unberechenbar
„Jedes betroffene Kind, jeder Jugendliche erfordert eine individuelle Betrachtung: Was spielt im jeweiligen Leben zusammen, dass dieser Mensch so ist, wie er ist? Was hat er in der Kindheit erlebt? Wie müssen wir uns vor diesem Hintergrund verhalten und welche Hilfe können wir anbieten, die die- oder derjenige auch annehmen kann?“, sagt Bender und klärt über mögliche Ursachen auf: Meist verbergen sich hinter diesem extremen Verhalten massive biografische Belastungen etwa durch Vernachlässigung, Traumatisierung, Gewalt oder Loyalitätskonflikte, erzeugt durch psychisch kranke oder suchtkranke Eltern.
Benni, dem Mädchen im Film etwa wurde als Baby immer wieder eine Windel ins Gesicht gedrückt. Solche Risikofaktoren machen die Umwelt für ein Kind unberechenbar – so dass es selbst allen anderen Menschen unberechenbar begegnen wird.
Feuer gelegt, um in Haft zu bleiben
Cordula Götz erzählt von einem 15-jährigen Jugendlichen, der mehrfach in Obhut genommen wurde, aber alle stationären Hilfeangebote, die in einer Gruppe stattfanden, sprengte: „weil er seine Impulse nicht unter Kontrolle hatte.“ Also entschied man sich für eine ambulante Betreuung in einem von „Auf Achse“ angemieteten Zimmer – und versuchte, ihn durch gemeinsame Mahlzeiten und Freizeitangebote peu à peu an die Gruppe anzubinden. Doch er zündelte weiter, bedrohte Gruppenmitglieder und Personal massiv – und landete im Jugendvollzug, wo er nach dreijähriger Haftstrafe wieder einmal Feuer legte, um nicht entlassen zu werden: Er schätzte den festen Rahmen in Haft, hatte Angst vor der Komplexität des Lebens in Freiheit, weil er nie gelernt hat, klare Entscheidungen zu treffen – seine psychisch kranke Mutter, deren Verhalten vielseitig ambivalent war, war dazu nicht imstande.
Eimer Erbrochenes über Betreuer ausgekippt
Ganz anders verhielt es sich mit einem 14-Jährigen, der sich freiwillig Hilfe in einer Inobhutnahme-Einrichtung suchte, da er die Gewalt zu Hause nicht mehr aushielt. Die Eltern waren suchtkrank, er musste schon als Kind viel Verantwortung für seine Geschwister übernehmen, sie versorgen und vor den Ausbrüchen des Vaters schützen. In der Gruppe benahm sich der Junge gegen alle Regeln, höchst aggressiv und delinquent. Einmal stahl er das Handy eines Mitbewohners, dann bedrohte er eine Jugendliche mit einer Waffe, kippte einen Eimer Erbrochenes über einem Mitarbeiter aus. Er war außer Rand und Band.
„Einerseits hatte er ein immenses Autonomie- und Freiheitsbestreben, weil er sein Zuhause als Gefängnis erlebte und in frühen Jahren zu viel Verantwortung übernehmen musste“, sagt Götz, „andererseits hat er sich ausprobieren wollen, weil er erstmals Gegenüber hatte, mit denen er sich auseinandersetzen konnte.“
Im Jugendhotel das Leben gelernt
Der junge Mann kam schließlich in das von „Auf Achse“ betriebene Jugendhotel „Klarigo“, wo er zwar ambulant betreut wurde, aber weitmöglichst selbstbestimmt leben konnte.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter halfen ihm, Sozialverhalten zu trainieren, sein Geld einzuteilen, Bewerbungen zu schreiben, eine Wohnung zu suchen. Und zu finden. Heute arbeitet er als Lagerist in Köln und hat sich kürzlich, als er eine „Auf Achse“-Mitarbeiterin wiedertraf, entschuldigt: „Was ihr mit mir ausgehalten habt, davor ziehe ich den Hut.“
Nicht immer gibt es ein Happy End. Wie im Fall einer 15-Jährigen, die aufgrund ihrer schweren psychischen Erkrankung kein stationäres Angebot annehmen, sich auf keinen festen Rahmen einlassen konnte, auf der Straße lebte, ambulant betreut wurde, und immer wieder, weil sie Suizid-gefährdet war, in der Jugendpsychiatrie aufgenommen wurde, es dort nicht lange aushielt, ausbrach.
Für Liebe gibt es keinen Ersatz
Fragen, die das beteiligte Personal in diesem Fall beschäftigen, sind auch ethischer Natur: Wo beginnt, wo endet das Bemühen, einen Menschen vor sich selbst zu schützen? Wo sind die Grenzen des hierzulande tief verankerten Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben?
Gibt es überhaupt den EINEN Spezialisten, die EINE Einrichtung, die helfen kann? Ist das, was betroffene Kinder häufig brauchen: bedingungslose Fürsorge und Liebe, als Ersatz überhaupt zu leisten?
Gute Konzepte, keine Steuerung
Pädagogen werden schnell zu dem Schluss kommen: „Wir können nicht helfen, wir sind keine Therapeuten.“ Die wiederum werden der Meinung sein: „Die Betroffenen müssen einen Lebensort haben, die Klinik ist keine Dauerlösung.“ Recht haben sie irgendwie alle. Erschwerend kommt hinzu, dass die Kapazitäten der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen bis zum Anschlag strapaziert sind. Personalnot und mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz tun ihr Übriges, und, geht es nach Menno Baumann, auch eine fehlende Steuerung: „Wir haben hoch engagiertes Personal und gute Konzepte. Aber: Ob jemand, der mit einem Kind wie Benni konfrontiert ist, diese Konzepte kennt und sie für eine gute Idee hält, ist in Deutschland eher Zufall“, sagt der Professor für Intensivpädagogik.
„Vielleicht muss unsere Gesellschaft, in der eben nicht alles vital und schön ist, aushalten, dass Menschen sich dazu entscheiden, sich nicht helfen lassen zu wollen, und man trotzdem nicht aufgibt, ihnen Angebote zu machen“, sagt Götz. „Aushalten, dass noch nicht der richtige Zeitpunkt für die richtige Lösung gekommen ist und das betroffene, meist bindungsgestörte Kind über Jahre lernen muss, dass es sich auf Menschen verlassen kann“, sagt Bender. „Aushalten, dass es Grenzen gibt, an die wir stoßen, weil nicht jede Maßnahme für jedes Kind richtig ist“, sagt Völlmecke.
Amoklauf des Traumas durchbrechen
Aushalten hin oder her: Liest man die lange Liste der Einrichtungen, Initiativen und Arbeitsgemeinschaften, macht es eher den Eindruck, dass in Köln und in der Region bei allen Beteiligten eine große Bereitschaft besteht, sich an einen Tisch zu setzen und zu vernetzen. Um jungen Menschen, die innerhalb des Systems keinen festen Ort finden, gemeinsam Halt zu geben. Um den Amoklauf ihres Traumas zu durchbrechen. Und um mitzuhelfen, dass ein Sozialsystem auch wirklich leisten kann, wozu es gedacht ist.