In Roggendorf hat die Stadt Köln im Juli eine Wohngruppe für schwer erziehbare Jugendliche eröffnet.
Seitdem sind Polizei-Einsätze an der Tagesordnung. Die Anwohner fühlen sich von den sogenannten „Systemsprengern” terrorisiert und sind verängstigt.
Ein Ortsbesuch.
Roggendorf – Die selbst gebastelte Einladung zum „Nachbarschaftskaffee“ sieht ein bisschen aus wie eine Einladungskarte zum Kita-Flohmarkt – kindlich gestaltet, harmlos. Grüner Karton, aufgeklebte Symbolbilder von einer Tasse Kaffee und einem Stück Torte und ein paar nette Zeilen: „Die Kinder- und Jugendpädagogische Einrichtung der Stadt Köln eröffnet in Kürze eine neue Jugendwohngruppe in der Quettinghofstraße. Zu einem gegenseitigen Kennenlernen möchten wir Sie gerne zu Kaffee und Kuchen einladen.“
„Das klang schön“, sagt eine Anwohnerin heute, zwei Monate nach dem Einzug der Kinder und Jugendlichen. „Wir haben uns gefreut, dass ein bisschen Leben in die Straße kommt.“ Aber hätten die Anwohner der ruhigen Einfamilienhaus-Siedlung im Kölner Norden auch nur geahnt, was ihnen bevorsteht: „Ich hätte es nicht geglaubt“, sagt ein Nachbar.
Polizeieinsätze sind in dem Wendehammer seit Mitte Juli fast an der Tagesordnung. Die Anwohner fühlen sich terrorisiert, viele haben Angst. „Unsere Nerven liegen blank“ haben 25 von ihnen in einem offenen Brief an Oberbürgermeisterin Henriette Reker geschrieben. Sie fühlen sich getäuscht, schreiben von Wutzuständen und Entsetzen und klagen: „Man hat uns keinen reinen Wein eingeschenkt.“ Bei der Kinder- und Jugendwohngruppe handelt es sich um so genannte „Systemsprenger“, ein Begriff aus der Pädagogik.
Als „Systemsprenger“ werden in der Pädagogik Kinder und Jugendliche bezeichnet, die sich jeglichen Maßnahmen zu entziehen scheinen – oft als Ergebnis eines gescheiterten Hilfeprozesses. Viele wurden von Einrichtung zu Einrichtung durchgereicht, haben schlechte Erfahrungen mit Betreuern oder Aufsichtspersonen gemacht. Viele haben auch Gewalterfahrungen oder sexuellen Missbrauch hinter sich, manche sind psychisch krank. Sie pendeln zwischen Jugendhilfe, Psychiatrie, Obdachlosigkeit und Gefängnis.
Für den Umgang mit den „Schwierigsten der Schwierigen“ gibt es verschiedene Ansätze: von pädagogischen Auslandsaufenthalten über Pflegefamilien bis zu einer geschlossenen Einrichtung. Manche Wissenschaftler vertreten die Ansicht, dass „Systemsprenger“ umso unerreichbarer werden, je konkreter die Hilfen sind; sie plädieren daher für niederschwellige Angebote. (ts)
Gemeint sind 13- bis 17-Jährige, die durchs Raster der Kinder- und Jugendhilfemaßnahmen gefallen sind. Die Kinder- und Jugendpädagogische Einrichtung der Stadt Köln (kurz: Kids) hat kürzlich vier von ihnen in dem großen Haus in der Quettinghofstraße einquartiert. Sie werden beaufsichtigt von Erziehern – neuerdings auch von einem privaten Sicherheitsdienst, der wohl die schlimmsten Auswüchse und Konflikte mit der verunsicherten Nachbarschaft verhindern soll.
Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat mit zahlreichen Anwohnern gesprochen. Seinen Namen möchte niemand in der Zeitung lesen. Aber alle schildern übereinstimmend, was sich vor allem nachts rund um die Einrichtung abspielt: „Aus den Fenstern werfen die Jugendlichen Flaschen und Steine auf geparkte Autos“, sagt einer. „Auch Stühle sind schon auf die Straße geflogen. Zuletzt saßen die Jungs auf dem Dachfirst und haben mit Deospray Flammen gemacht“, erzählt eine Frau. Auch die Feuerwehr sei zweimal da gewesen. Es werde gegen Hausmauern uriniert, in Richtung der Nachbarn gespuckt, die Jugendlichen würden über fremde Terrassendächer und Carports klettern. Einer sei von der Polizei gefesselt und mitgenommen worden, sagt ein Nachbar. „Der sitzt jetzt in Haft.“ Ein 13-Jähriger habe einen Wachmann angebrüllt: „Pack mich nicht an, ich stech dich ab.“ Die Erzieher, so nehmen es die Anwohner wahr, würden kaum eingreifen. „Die Jungs tanzen denen auf der Nase herum.“
Wer nach Roggendorf hinein fährt, passiert eine bunt gestrichene Kita am Ortseingang. Auf die Rückseite eines Verkehrsschildes hat jemand mit schwarzer Farbe „LKW Verbot für Roggendorf“ gesprüht. Die Straßen sind eng, die Häuser gepflegt. An diesem sonnigen Dienstagvormittag strahlt auch das Haus mit dem gusseisernen Briefkasten vor der Tür keinerlei Gefahr aus. Nur die notdürftig mit Holz und Pappe abgedeckten Fenster in der Eingangstür lassen auf ein gewisses Gewaltpotenzial der jungen Bewohner schließen. „Wir schrecken jede Nacht hoch“, schildert eine Anwohnerin. „Die müssen in diesem Haus alles zerlegen. Wir kriegen hautnah mit, wie viel Wut und Kraft die entwickeln. Das macht mir Angst.“
Dass auch die Stadt wusste, dass es mit den Jugendlichen wohl nicht ganz einfach wird, lässt die Stellenanzeige erahnen, mit der die Verwaltung nach Sozialarbeitern für die „Intensiv-Jugendwohngruppe“ gesucht hatte: Vorausgesetzt werden von Bewerbern unter anderem eine „sehr hohe Belastbarkeit“ sowie Fähigkeiten im Umgang mit einer „Hoch-Risiko-Klientel“ mit hoher Konfliktbereitschaft, Gewalttätigkeit und „Impulsdurchbrüchen“. Auf kurzfristige Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ gab die Stadt am Dienstag keine Stellungnahme zu dem umstrittenen Wohnprojekt ab, stellte diese aber in Aussicht.
In ihrem offenen Brief erklären die Anwohner das „Haus für Systemsprenger“ aus ihrer Sicht als gescheitert. Dass die jungen Bewohner Hilfe benötigen, streitet indes niemand ab. „Man muss sich ja auch mal vor Augen führen“, sagt eine Anwohnerin, „was die Jugendlichen sehen, wenn sie aus ihren Fenstern in unsere schauen: heile Welt, Enkelkinder, Vater Mutter Kind. Das ist auch für die Wahnsinn.“ Die Oberbürgermeisterin bitten die Anwohner dennoch, „die Reißleine zu ziehen“ und „diese Form der Jugendhilfe an diesem Standort“ zu beenden.