AboAbonnieren

„Habe mich immer als Opfer begriffen“Wie ein Kölner Gewalttäter seinen Zorn überwand

Lesezeit 6 Minuten
Eine Faust ist auf einem gesprungenen Spiegel zu sehen.

Jahrzehntelang bestimmte die Gewalt von Kai Schulz (Name geändert) sein Leben und das seiner Mitmenschen. (Symbolbild)

Kai Schulz war jahrzehntelang gewalttätig und zerstörte mehrere Beziehungen. Bis er sich nach einer Eskalation Hilfe holte – und schmerzliche Erkenntnisse machte.

Am Ende konnten einschreitende Kolleginnen und Kollegen das Schlimmste verhindern. „Aber es war sehr heikel, es hat nicht viel gefehlt“, erzählt Kai Schulz (Name geändert). Im Rückblick sagt er über die Situation: „Danach hat es Klick gemacht. Ich wusste, dass ich ganz dringend Hilfe brauche, sonst mache ich mir alles kaputt.“

Vor rund drei Jahren steht der 48-jährige Gärtner bei einer Fortbildung in einer Maschinenhalle, säubert, wie vom Kursleiter angewiesen, Fahrzeuge und Geräte. Viele seiner Kolleginnen und Kollegen stehen währenddessen vor der Tür und rauchen. „Ich fand das unfair und dachte: Das ist nicht in Ordnung. Das können sie machen, wenn die Arbeit getan ist.“

Schuldgefühle und Scham nach Wutausbrüchen

Und das sagt Schulz ihnen auch. Er tritt vor die Tür, stellt die rauchenden Kolleginnen und Kollegen zur Rede und verliert sich, wie schon so oft in seinem Leben, in einer Spirale sich ständig steigernder Wut: „Ich habe komplett die Kontrolle verloren“, sagt er. Einer der Kollegen hält dagegen, will sich die Tiraden von Schulz nicht gefallen lassen. „Es endete damit, dass ich ihm androhte, ihm einen Kugelschreiber in den Hals zu stechen.“

Alles zum Thema Polizei Köln

Schulz' Wutausbruch löst Empörung aus. Der Kursleiter erteilt ihm Hausverbot, ein Gespräch mit seinem Chef folgt. „Ich musste ihm etwas anbieten, sonst hätte er mich gekündigt.“ So ist Kai Schulz beim „Täterorientierten Interventionsprogramm“ von Marc Thomas bei der Arbeiterwohlfahrt (Awo) gelandet.

Es ist das einzige Programm seiner Art in Köln. „Ziel ist es, dass unsere Klienten lernen, Gefühle wie Wut, Frust und Enttäuschung besser wahrzunehmen, um sie besser kontrollieren zu können und so ihr Gewaltverhalten dauerhaft einstellen“, erklärt der Kriminologe und Erziehungswissenschaftler. In Einzel- und Gruppensitzungen werden die Klienten dabei zunächst mit ihrem Gewaltverhalten konfrontiert. „Der erste Schritt ist, dass die Klienten lernen, Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen und aufhören, sie an andere abzugeben.“

Programmleiter für „Entscheidung: Gewaltfrei – Tatorientiertes Interventionsprogramm bei Partnerschaftsgewalt“ bei der Arbeiterwohlfahrt, Marc Thomas im Porträt.

Programmleiter für „Entscheidung: Gewaltfrei – Tatorientiertes Interventionsprogramm bei Partnerschaftsgewalt“ bei der Arbeiterwohlfahrt, Marc Thomas

Für Schulz war dieser erste Schritt der größte. „Ich habe mich immer als Opfer begriffen. Zu erkennen, dass ich Gewalttäter bin, war schmerzhaft.“ Jahrzehntelang war Schulz' Leben und das seiner Mitmenschen geprägt von seinen Gewaltausbrüchen, schildert er. „Sobald ich gestresst war und irgendein Reiz verspürt habe, den ich als Ungerechtigkeit empfunden habe, konnte ich mich nicht mehr kontrollieren und bin ausgerastet.“

Die Außenwelt war für ihn etwas, das mit permanenter Gefahr verbunden war, gegen die er sich zur Wehr setzen musste. Seine Ausbrüche reichten von psychischer Gewalt in Form von Beleidigungen und Tiraden gegen Freunde und Partnerinnen, bis hin zu körperlicher Gewalt. Im Streit um eine zu laute Kaffeemühle hat sich Schulz etwa mit seinem WG-Mitbewohner geprügelt, erzählt er. Auch mit Fremden kam es auf der Straße zu Prügeleien.

„Nach diesen Episoden war ich am Boden zerstört, hatte Schuldgefühle und habe mich geschämt“, sagt Schulz mit zitternder Stimme. Viele seiner Freundschaften gingen zu Bruch. Auch, weil Schulz sich wegen seiner Scham nicht mehr bei ihnen meldete. Seine Partnerin habe er zwar nie geschlagen, sagt Schulz. „Aber auch sie musste psychisch immer wieder unter meinen Ausbrüchen leiden. Es ist ein Wunder, dass sie sich nicht von mir getrennt hat.“ Auch das musste Schulz lernen, erzählt er: „Gewalt äußert sich nicht nur in körperlichen Übergriffen, sondern auch psychisch und verbal. Und das musste sie jahrelang aushalten.“

Seit der Corona-Pandemiebeobachten wir, dass Formen von psychischer Gewalt bei den Klienten zugenommen haben und die Konflikte komplexer geworden sind
Marc Thomas, Programmleiter für das Tatorientierte Interventionsprogramm bei der Awo

Drei Jahre und über 100 Sitzungen bei der Awo später ist sich Schulz sicher, seine gewaltvolle Seite hinter sich gelassen zu haben. Bei den Sitzungen habe er gelernt, seine Ausbrüche zu antizipieren. Die „körperlichen Marker“, wie er sie nennt, zu erkennen und zu verhindern, dass sie in Gewalt umschlagen. Dieser Lernprozess sei der zentrale Inhalt der Täterarbeit, so Projektleiter Thomas. „Gemeinsam erarbeiten wir Strategien, wie unsere Klienten ihre Emotionen besser wahrnehmen können und Konflikte gewaltfrei lösen können.“

Ins Leben gerufen wurde das Programm der Awo bereits 2004. Damals noch unter dem Namen „Mannsein ohne Gewalt“. Noch immer liegt der Fokus des Programms auf Partnerschaftsgewalt, seit drei Jahren können nun aber auch Frauen an dem Training teilnehmen. „Auch wenn Gewalt tendenziell mehr von Männern ausgeht, können auch Frauen gewalttätig sein.“ Da weibliche Beziehungsgewalt aus Scham seltener angezeigt werde, sei sie aber weniger sichtbar.

Stadt Köln plant Kampagne für mehr Sichtbarkeit von täterorientierten Programmen

Tatsächlich geht häusliche Gewalt laut Zahlen der „Polizeilichen Kriminalstatistik“ zum Großteil von Männern aus. Und zumindest auf Landesebene steigen die Zahlen nach wie vor an. Im Jahr 2022 wurden im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt in NRW 58.603 Fälle polizeilich bekannt – das sind 9,7 Prozent mehr als im Jahr 2021, rund drei Viertel der Opfer waren weiblich. In Köln gingen die Zahlen zuletzt langsam zurück.

Lagen sie zwischen 2022 noch bei rund 2600 Fällen, waren es 2023 noch rund 2500, so eine Sprecherin der Kölner Polizei. In seiner Einrichtung merke man davon aber wenig, so Thomas. Wohl auch, weil das Dunkelfeld bei häuslicher Gewalt nach wie vor hoch ist. „Auch wenn die Zahlen zu körperlicher Gewalt in Köln gesunken sind, beobachten wir seit der Corona-Pandemie, dass, neben unveränderter körperlicher Gewalt, Formen von psychischer Gewalt bei den Klienten zugenommen haben und die Konflikte komplexer geworden sind.“

Vor kurzem beschloss der Gleichstellungsausschuss der Stadt Köln einstimmig, Angebote der Täterarbeit zu stärken und plant eine 20.000 Euro starke Kampagne, um auf Angebote, wie die der Awo aufmerksam zu machen. „Schlimmere Gewalteskalationen können mit früheren Gegenmaßnahmen häufiger verhindert werden“, heißt es in der Begründung. „Mehrere Studien, insbesondere aus den USA, belegen die Effektivität von Anti-Gewalt-Trainings.“

Auch Thomas betont die Wirksamkeit des Programms, wenngleich es oft schwierig sei, den Erfolg zu messen: „Bei einem Großteil meiner Klienten habe ich ein gutes Gefühl, dass sie ihr Gewaltverhalten nachhaltig verbessert haben.“

Wichtig sei die Bereitschaft der Klienten, auch schmerzhafte Erkenntnisse über sich zu akzeptieren und teils jahrzehntelange Verhaltensmuster zu hinterfragen. „Ich leite dieses Programm seit einigen Jahren und hatte bisher noch keinen Klienten, der in seiner Kindheit nicht selbst Opfer von Gewalt geworden ist.“ Diese Gewalterfahrungen würden sich in verschiedenster Weise später im Verhalten von Gewalttätern manifestieren. „Aber es ist möglich, diese angelernte Gewalt wieder loszuwerden“, ist Thomas überzeugt.

Auch Kai Schulz berichtet davon, in seiner Kindheit Opfer von Gewalt und Misshandlungen geworden zu sein. Den Kontakt zu seiner Familie hat er mittlerweile abgebrochen – und ein neues Selbstverständnis entwickelt. „Ich bin kein Täter mehr, aber ich bin auch kein Opfer.“ Mit beiden Kategorien möchte er in seinem Leben nichts mehr zu tun haben.