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Zahlen des LKA
Häusliche Gewalt in Nordrhein-Westfalen nimmt drastisch zu

Lesezeit 6 Minuten
Eine Frau hält ihre Hände vor das Gesicht. Die Szene ist gestellt.

Eine Frau hält ihre Hände vor das Gesicht. Die Szene ist gestellt.

Ein bislang unveröffentlichtes Lagebild zeigt, dass die Fallzahlen seit Jahren steigen. Vor allem auf dem Land fehlt es an Hilfestrukturen.

Frauen, die schon lange mit einem gewalttätigen Partner leben, sind häufig sehr allein. Freundinnen, die einst noch helfen wollten, haben sich abgewendet. Sie verstehen nicht, warum die Frauen an einer Beziehung festhalten, in der sie geschlagen werden. „Wenn ich jahrelang häusliche Gewalt erlebe, sinkt mein Selbstwertgefühl deutlich und ich habe nicht mehr das Gefühl, dass ich mein Leben selbst in die Hand nehmen kann“, sagt Marina Walch, Leiterin des „Wendepunktes“, Frauenberatung und Gewaltschutzzentrums der Diakonie Michaelshoven. Viele Opfer hätten Angst, alles zu verlieren. Ihr finanzielles Auskommen, ihre Kinder, ihren Plan vom Familienleben.

Die Fälle von häuslicher Gewalt nehmen in Nordrhein-Westfalen seit Jahren kontinuierlich zu. Im Jahr 2022 wurden im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt in NRW 58.603 Fälle polizeilich bekannt – das sind 9,7 Prozent mehr als im Jahr 2021. Rund 64.000 Menschen wurden Opfer häuslicher Gewalt und damit 8,9 Prozent mehr als im Vorjahr. Das geht aus dem bislang unveröffentlichten Lagebild des NRW-Landeskriminalamts hervor, das dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ exklusiv vorliegt. Danach waren drei Viertel der Opfer weiblich (72,2 Prozent). Bei mehr als der Hälfte der Delikte handelte es sich um vorsätzliche, einfache Körperverletzung.

54 Todesopfer durch häusliche Gewalt

Erschreckend: Im Jahr 2022 kam es zu 54 Todesfällen im Rahmen von häuslicher Gewalt. Im Bereich der Partnerschaftsgewalt waren fast 82 Prozent der Opfer Frauen. In 30 Prozent der Fälle waren Täter und Opfer miteinander verheiratet. In etwa 23 Prozent der Fälle kam es zu psychischer Gewalt wie Bedrohung, Nötigung oder Stalking.

Alles zum Thema Herbert Reul

Die Statistik zeigt ausschließlich das „polizeiliche Hellfeld“, das stark vom Anzeigeverhalten der Bevölkerung abhängt. Die Zahlen sind also wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs, Fachleute gehen von einer sehr hohen Dunkelziffer aus, nach Angaben der SPD-Fraktion liegen entsprechende Schätzungen zwischen 25 und 80 Prozent. Viele Taten könnten verhindert werden, sagte Christina Kampmann, innenpolitische Sprecherin der SPD im Landtag, wenn die Polizei im Gefahrenfall konsequenter einschreiten dürfte.

Laut Polizeigesetz NRW sei derzeit eine „gegenwärtige Gefahr“ notwendig, um einen Täter der Wohnung zu verweisen. Das heißt, es muss bereits zu Gewalttaten gekommen sein. „Gerade bei häuslicher Gewalt besteht aber eine hohe Wiederholungsgefahr, die nicht immer akut sein muss“, erklärte Kampmann im Gespräch mit dieser Zeitung. „Andere Bundesländer haben deshalb die ‚Gegenwärtigkeit‘ gestrichen, damit die Polizei bereits in einem früheren Stadium eingreifen kann, um eine Gefährdung gar nicht erst entstehen zu lassen“, so die frühere NRW-Familienministerin. Bei den Einsätzen gehe es „regelmäßig um die Verhütung von Gefahren für Rechtsgüter höchsten Ranges – nämlich Leben, Leib und Freiheit.“

Für die Gewaltschutzzentren in Köln wurde es zuletzt schwieriger, die Betroffenen zu erreichen und ihnen Hilfe anzubieten, weil weniger Fälle vermittelt wurden, berichtet Marina Walch. Sie kümmert sich seit mehr als 20 Jahren um Betroffene. Viele von ihnen bräuchten Hilfe, um aus der Isolation zu kommen und den ersten Schritt zu wagen, um langfristige Lösungen zu sehen.

Beratungsstellen benötigen Daten

Betroffene finden in NRW ein Netzwerk an Hilfsmöglichkeiten, etwa bei regionalen Beratungsstellen, Interventionsstellen, Notruftelefonen, Rechtsberatungsstellen oder Opferhilfsorganisationen. Allerdings ist der Schritt, sich Hilfe zu holen, für viele ein großer. Es ist daher gängige Praxis und im Polizeigesetz Paragraf 34a geregelt, dass Beamte bei Vorfällen von häuslicher Gewalt den Opfern anbieten, ihre Daten an eine geeignete Beratungsstelle weiterzuleiten. In Köln sind das zwei Gewaltschutzzentren. Diese nehmen dann Kontakt mit den Betroffenen auf und bieten Hilfe an. Anders als etwa in Niedersachsen werden in NRW ohne die Zustimmung der Betroffenen keine Daten weitergegeben. Ist das sinnvoll?

„Wenn die Betroffenen von der Polizei gefragt werden, befinden sie sich in einer absoluten Ausnahmesituation“, sagt Walch. „Sie haben gerade Gewalt erlebt und sollen dann zustimmen, dass ihre personenbezogenen Daten übermittelt werden. Da sagen viele Nein, ohne genau zu wissen, worum es überhaupt geht.“ Bekämen die Beratungsstellen die Daten aber obligatorisch übermittelt, könnten sie ein bis zwei Tage später, wenn sich der akute Stress gelegt hat, an die Betroffenen herantreten und ihnen ihre Möglichkeiten aufzeigen. Wenn diese keine Hilfe wollten, sei das absolut in Ordnung, sagt Walch, aber: „Je mehr Betroffene wir erreichen, desto mehr Menschen kann geholfen werden.“

In NRW gibt es aktuell 68 Frauenhäuser mit insgesamt 676 Schutzplätzen. Experten kritisieren, dass die Zahl nicht ausreicht. Gesine Qualitz, Geschäftsführerin des Frauenberatungszentrums Köln, erlebt immer wieder, dass viele Telefonate und eine lange Suche nötig sind, um für akut von häuslicher Gewalt betroffene Frauen einen Platz in einem Frauenhaus zu finden. In Köln etwa sei bereits seit längerem ein drittes Frauenhaus geplant. „Wir warten seit Jahren darauf“, sagt die Diplom-Pädagogin, „aber es ist nicht so richtig der politische Wille da, das endlich gegen alle Widerstände umzusetzen.“

Ökonomische Macht als Druckmittel

Auch die Stärkung der Beratungsstellen steht für Experten ganz oben auf der Prioritätenliste. „Da gehen viele Frauen ja erstmal hin“, sagt Marina Walch. „Dort können sie dazu beraten werden, ihre Gefährdungslage anzuerkennen und überhaupt zu verstehen, dass entweder der gewalttätige Partner gehen muss oder bei besonderer Gefährdung sie selbst ihr Zuhause verlassen müssen.“ Besonders schwierig ist die Betreuung von Opfern im ländlichen Raum – dort fehlen zumeist Beratungsstrukturen, die in Großstädten vorhanden sind.

Gesine Qualitz wünscht sich zudem, dass psychische und auch ökonomische Gewalt noch mehr in den Fokus rücken. „Beides hat ganz ähnliche Folgen für die Betroffenen wie körperliche Gewalt“, sagt sie. Bei Bedrohung, Beschimpfung, Beleidigung müssten die Frauen in der Regel schon „sehr deutlich die Angst um ihr Leben formulieren, damit die Polizei tätig wird.“ Und die wirtschaftliche Abhängigkeit sei häufig der Grund, warum Frauen sich nicht aus einer bedrohlichen Beziehung befreien können.

Walch weist darauf hin, dass auch die Hilfe für Kinder, die Gewalt in der Familie erleben, viel zu kurz komme. Und das nicht nur in Frauenhäusern, für die die SPD-Fraktion mehr auf Kinder spezialisierte Fachkräfte fordert. „Viele Frauen trennen sich, ohne ins Frauenhaus zu gehen“, sagt Walch: „Aber die Kinder brauchen dann trotzdem dringend Unterstützung.“ Gewalterlebnisse schadeten der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen massiv und seien ein großer Risikofaktor, irgendwann selbst Opfer oder Täter zu werden. „Für die Kinderintervention gibt es in NRW kein Geld“, erklärt Walch. Es gebe überhaupt nur zwei Anlaufstellen im Land, eine beim Wendepunkt in Köln und eine in Paderborn. Beide seien von Spendengeldern abhängig.

NRW-Innenminister Herbert Reul verspricht den Opfern, die Polizei werde alles tun, um Täter zu stoppen. „Gewalt darf keinen Spielraum kriegen und ist keine Privatsache! Wer andere verletzt – egal ob mit Worten oder mit Taten – muss aufgehalten werden“, sagte der CDU-Politiker dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Er bittet Zeugen, Verdachtsfälle zu melden: „Unsere Polizisten nehmen jeden Hinweis ernst und bieten den Schutz, der benötigt wird.“