Kalk – Es ist ein Besuch, der eigentlich nicht sein darf: Tom Gerhardt steht mitten im wuseligen Treiben vor den Köln-Arcaden in Kalk – und das trotz „Köln-Kalk-Verbots“. Den Bannspruch handelte sich der Comedian, Schauspieler und Drehbuchautor einst in seiner Rolle als Prolet Tommy in seinem Film „Voll normaaal“ ein. Der Stadtteil im Osten Kölns ist Zentrum seiner fiktiven Filmcharaktere, die bodenständig wie das Viertel sind. Seitdem begleitet den 55-Jährigen der Spruch „Hey, was machst du hier? Du hast doch Köln-Kalk-Verbot!“ bei seinen Besuchen im Stadtteil regelmäßig. Für seine Figuren wurde das Stadtteilverbot zur Bedrohung. Köln-Kalk durch seine Filme zum Kult. Nicht nur in Köln.
Gute Preise
So selten ist Gerhardt gar nicht in Kalk. Er schätzt eine gewisse Anonymität. „Ich gehe öfter in den Köln-Arcaden einkaufen. Die Leute vermuten gar nicht, dass ich hier sein könnte und sind mit sich selbst beschäftigt.“ Das Einkaufszentrum nahe dem Polizeipräsidium auf der Kalker Hauptstraße empfiehlt er auch für Schnäppchenjäger. „Man bekommt hier die gleichen Sachen zu einem günstigeren Preis“, meint Gerhardt, der eigentlich mit seiner Lebensgefährtin Nadja und seinem dreijährigen Sohn Rodrigo in der Innenstadt lebt. Das Eiscafé „Gelatissimo“ im Inneren der Arcaden hat es ihm besonders angetan. „Hier sind die Eiskugeln größer als in der Innenstadt“, sagt Gerhardt, der sich hier gern das Fruchteis ohne Sahne für einen Euro die Kugel schmecken lässt, während sich eine Blondine mit gepunkteten Designerfingernägeln und einem Leopardenmusterhandy am Tisch nebenan unterhält. „Alles schön sauber und hell hier“, sagt Gerhardt mit einem Blick auf den großen Komplex.
Gerhardt kennt das Viertel noch von früher. Als Schüler jobbte er in den Ferien im KHD-Werk, räumte Regale ein. „Wo heute das Einkaufszentrum steht, war die ehemalige Chemische Fabrik Kalk beheimatet. Dichte gelbe Schwaden stiegen aus den Schloten. Kopfsteinpflaster säumte den Bereich vorm Gebäude. Alles wirkte sehr finster.“ Und das Viertel habe sich einen gewissen industriellen Charakter bewahrt. Hinter den Arkaden steht zum Beispiel eine Turbine aus der ehemaligen Fabrik.
„Diesen Charakter hat auch die Halle Kalk des Kölner Schauspiels. Das ist der alte Geist. Kalk hat eben was Ehrliches“, findet Gerhardt, der weiß, dass Kalk innerhalb der Stadt noch immer eine Baustelle ist. „Der Strukturwandel weg von der Industrie ist ja noch nicht abgeschlossen. Der Niedergang hat Kalk schwer getroffen, was auch die hohe Arbeitslosenrate zeigt. Hier muss noch viel getan werden.“
Und noch etwas hat sich seiner Meinung nach verändert: „Kalk ist richtig multi-kulti geworden.“ Gegenüber dem Einkaufszentrum liegt die Trimbornstraße mit der „Vorstadtprinzessin.“ Die Kneipe ist alternativ angehaucht und könnte auch in Berlin stehen. Hin und wieder finden dort kleinere Konzerte statt. Auch das „Büro für Brauchbarkeit“, das Produktdesigner beherbergt, hat hier seinen Sitz. Weiter runter in Richtung Gremberg haben sich viele Händler aus der arabischsprachigen Welt mit Gemüseläden, Änderungsschneidereien und Friseuren angesiedelt.
Einziger Stadtteil-Ehrenbürger Deutschlands
Auf der Kalker Hauptstraße reihen sich Dönerbuden, Handygeschäfte und Fertigbäcker aneinander. Alte Einzelhändler sind hier kaum zu finden. Hans Hogrebes Rösterei oder Deko Rolf sind zwei von wenigen Ausnahmen. Der Kaufhof steht seit seiner Schließung leer. „Das ist aber hier kein spezielles Kalker-Phänomen, das gibt es anderswo auch“, meint Gerhardt.
Vor zwei Jahren überreichte ihm Bezirksbürgermeister Markus Thiele die Ehrenbürgerschaft des Viertels. „Das ist eine große Ehre. Das ist die einzige Ehrenbürgerschaft eines Stadtteils in Deutschland“, sagt Gerhardt und grüßt die Leute zurück, die ihn erkennen. Seine Aufgaben als Ehrenbürger: Sich um Kalk verdient machen. Seine Vorteile: Er darf innerhalb Kalks umsonst zwei Stationen mit der U-Bahn fahren.
Ausgenützt hat er dieses Privileg jedoch noch nicht. „Muss ich aber unbedingt mal machen“, sagt Gerhardt lachend, als er die Kneipe „Reissdorf em Cornely“ passiert. Eine weitere Institution im Veedel ist das Café Schlechtriemen: Im Inneren mit Teppichboden ausgelegt, die Schrankwand Eiche rustikal, schmückt die Wand am Ende des Lokals und ein Séparée mit 70er-Jahre-Leuchten ergänzt das eigenwillige Interieur. Das gefällt nicht nur den Senioren, die sich hier gern zum Kaffeeklatsch treffen. Auch die Jüngeren mögen den Retro-Charme des Cafés.
Nur wenige Schritte entfernt steht die Kalker Kapelle an der Gabelung Kalker Hauptstraße/Kapellenstraße. Während die Reporter und Tom Gerhardt vergeblich versuchen, den Eingang der kleinen Kirche zu finden, schaut sich ein älterer Herr mit weißer Mütze das Geschehen von seiner Bank aus an, um sich am Ende doch zum Eingreifen durchzuringen. „Witzig, ein Türke hat mir gesagt, wo die Tür ist“, sagt Tom Gerhardt später in der katholischen Kirche. „So ist eben Kalk“, sagt der für derben und überdrehten Humor bekannte Gerhardt. Drinnen hält er inne und starrt an die Decke. „Prunkvolle Kirchen haben immer etwas Bedrückendes. Diese aber ist schlicht, spartanisch mit den grauen Mauern. Sehr ausdrucksstark.“
Ohne Kalk geht nichts
Draußen auf der Hauptstraße ist viel Verkehr, viele Menschen laufen dort entlang. Innen ist es sehr ruhig. Die Standleuchten links und rechts der Sitzbänke werfen ein stimmungsvolles Licht in den sonst kargen Raum. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Kapelle zerstört und später wieder aufgebaut. Eine Nonne kniet nieder, um ihren Rosenkranz zu beten. Wenig später gesellt sich eine weitere Frau dazu und faltet die Hände. Eine Statue der Maria mit dem toten Jesus in den Armen aus dem 15. Jahrhundert steht am Altar. Früher wurden ihr Wunder nachgesagt.
Heutzutage führt der nächtliche Schweigemarsch katholischer Männer zur Kapelle. Gerhardt entzündet eine Kerze. „Möge die Madonna von Köln-Kalk mir Beistand für eine neue Serie leisten“, sagt Gerhardt. Momentan hat er ein Drehbuch dafür in Petto. Ob etwas daraus wird, weiß er nicht. Spielt Kalk wieder eine Rolle? „Ohne Kalk wird es nicht gehen“, sagt Gerhardt und lacht dabei.
Gerhardt ist mit dem Kirchenbetrieb aufgewachsen. Sein Vater war Organist, die Familie lebte vom Geld der Kirche. Er wuchs in der Pfarrgemeinde auf. „Da waren viele liebenswürdige Menschen darunter. Bei allen Anfeindungen, die der Katholischen Kirche entgegen gebracht werden, denke ich immer: Ist das nicht etwas einseitig? Ich habe doch so viele positive Erfahrungen gemacht.“ In einer individualisierten Gesellschaft müsse es seiner Meinung nach viel mehr Angebote wie die der Kirchen geben, die gemeinsame und spirituelle Erfahrungen ermöglichen. „Sonst vereinsamt man doch.“
Auf Bürosuche
Für Gerhardt hat der Veedelsspaziergang noch einen weiteren Nutzen. Der Komiker sucht nach einem Büro in Kalk und sieht das Werbeschild eines Immobilienmaklers. Vielleicht wäre das ja eine Gelegenheit. Nur eine Frage bleibt offen: Was passiert eigentlich, wenn Gerhardt gegen die Auflage als Ehrenbürger verstößt, sich um Kalk verdient zu machen? „Ganz klar“, sagt er: „Dann gibt’s Köln-Kalk-Verbot.“