In der Hauptschule sitzen Kinder, die sich vergessen fühlen: Die Ehrenfelder Autorin Mirijam Günter war mal eine von ihnen.
Heute organisiert sie dort Literaturwerkstätten und will den Schülern damit eine Ermutigungsquelle bieten.
Wir haben mit ihr über die Lebenswirklichkeiten der Jugendlichen und ihr Projekt gesprochen.
Köln – „Meine Eltern sind nichts und ich werde auch nichts“. Das sind so die Sätze, die die Kölner Schriftstellerin Mirijam Günter hört, wenn sie vor ihren Schützlingen sitzt. Hauptschüler, Förderschüler, Jugendliche im Knast – das sind die jungen Leute, für die die Ehrenfelder Jugendbuchautorin Literaturwerkstätten macht.
Studien zur mangelnden Bildungsgerechtigkeit gibt es alle Jahre wieder, das Lamento über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich auch. Wer Günter zuhört und ihre Schützlinge reden hört, der begreift, dass das alles akademische Debatten sind. „Für diese Jugendlichen ändert sich dadurch nichts. Und es guckt auch keiner wirklich hin.“
Die mit dem Oldenburger Kinder- und Jugendliteraturpreis ausgezeichnete Autorin geht seit vielen Jahren quer durch die Republik zu den Jugendlichen, die zuhause nicht mit Literatur in Kontakt kommen. Dahin wo sich keine engagierten Eltern dahinter klemmen, dass die Klasse die lit.Cologne besucht und wo kein Euro fließt für Theatertickets oder KVB-Tickets: In Haupt- und Förderschulen. Dort ist oft die Überraschung groß, wenn Günter auftaucht. Dass überhaupt jemand kommt und dass der auch noch die Aufforderung mitbringt, etwas aufzuschreiben aus seinem Leben, ein eigenes Gefühl, das stoße zunächst auf Staunen und Unverständnis: „Das interessiert eh keinen, was wir hier schreiben“ – das höre ich dann immer wieder.“
Da, wo Günter hingeht, da rechnet sich keiner Zukunftschancen aus. „Die haben das Gefühl, dass sie für die anderen ohnehin nur die „Assis“ sind.“ – „Sehen Sie Frau Günter, wir sitzen hier, weil unsere Eltern arm sind. Reiche Kinder gehen aufs Gymnasium.“ So erklärt ihr ein 11-jähriger Hauptschüler seine Welt. Günter motiviert sie trotzdem, manchmal zum ersten Mal in ihrem Leben ihren eigenen Gedanken schriftlich Raum zu geben: „Ich bin die Krähe, die wo für seine Mutter Wasser holt, ich bin der einzige Stern der für seine Mama leuchtet“. Dieser Satz, den der Elfjährige schließlich zu Papier gebracht hat, berührt Günter, wie so vieles, was sie da liest. Sie lobt und ermutigt. Hofft, dass es Kinder gibt, die das Schreiben als Kraft- und Ermutigungsquelle, als Zugang zu sich selbst und ihren Gefühlen entdecken.
„Die Miri“ ist eine von ihnen
Dass sie diese Arbeit macht, die für sie eine Berufung ist. Dass sie überall Klinken putzt, um Fördermittel für ihre Literaturwerkstätten zu generieren, wenn sie keine bekommt auch für lau in die Schulen kommt. Dass sie es schafft, die Jugendlichen zu erreichen: All das hängt damit zusammen, dass die Jugendlichen sofort spüren, dass „die Miri“ eine von ihnen ist, eine, die auch Dreck gefressen hat in ihrem Leben.
Sie ist selbst ein Findelkind. 16 Jahre hat die Ehrenfelderin in verschiedenen Heimen gelebt, Hauptschulabschluss gemacht, drei Ausbildungen abgebrochen. „Bei dir ist Hopfen und Malz verloren“, das habe man ihr ganz unverblümt gesagt. Hoffnungsloser Fall. Das Schreiben war dann ihre Rettung: In ihrem ersten Roman „Heim“ geht es um ein 13-jähriges Mädchen – das noch nicht mal einen Namen hat und im Heim lebt. Für das Buch, das zunächst niemand verlegen wollte, erhält Mirijam Günter den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis. Es folgen zwei weitere bei Dtv verlegte Jugendromane.
Dass da eine steht, die eine von ihnen ist und es doch geschafft hat, das lässt die Schüler aufhorchen. Mit ihrer Biografie will sie Mut machen und gleichzeitig für den Schatz sensibilisieren, der das Schreiben sein kann. Fast alle Schüler, mit denen Günter zu tun hat, schieben Frust, haben ein geringes Selbstwertgefühl. „Meine Mutter ist Putze und ich werde auch höchstens Putze.“ Solche Kommentare hört sie immer wieder.
Dieses Gefühl, nicht richtig dazuzugehören, ist ihr sehr vertraut. Bis heute. Etwa wenn sie bei Seminaren mit Kulturschaffenden zusammenkommt, und irgendwann die Frage die Runde macht, wo man denn zur Uni gegangen ist und sie dann antwortet: „Ich habe Hauptschulabschluss.“ Das fänden dann alle krass oder fragten auch schon mal nach, ob man denn da überhaupt liest.
Hauptschüler begreifen sich oft als „abgehängt“
Die „Abgehängten“ werden die, mit denen sie arbeitet, oft abfällig genannt und sie begreifen sich auch selbst so. „Wir sind der Welt doch scheißegal.“ – „Um reiche Kinder kümmern sich die Politiker. Die kriegen gutes Essen und anständige Kleidung. Die wollen ja, dass aus denen auch was Gutes wird. Für uns interessieren die Politiker sich nur, wenn wir Mist bauen oder denen schaden.“ – Zitat von Schülern, die Günter in abgewandelter Form immer wieder begegnen.
Am Anfang, als sie sich noch nicht damit abfinden wollte, dass die beiden Welten nebeneinander existieren – hier die Gymnasiasten, dort die Förderschüler – hat sie versucht, beide Gruppen für eine Lesung zusammenzubringen. Weil sie rausgefunden hatten, dass kein Hauptschüler einen Gymnasiasten kennt. Weil doch Begegnung Vorurteile löst. „Und dann saßen sie da, streng getrennt, von außen war mit bloßem Auge, wer die Gymnasiasten waren und wer die Hauptschüler.“ Die Förderschüler hätten sich nicht getraut ihre Literaturwerkstatt-Texte vorzulesen. Die Gymnasiasten saßen stocksteif auf ihren Stühlen. In Angst, von den Förderschülern verprügelt zu werden.“ Das Konzept hat Günter dann nicht weiter verfolgt.
Politikunterricht fehlt
Günter geht mittenrein in die Lebenswirklichkeit. Hält auch schwierigen Themen stand, etwa wenn sie mit den Jugendlichen über Politik diskutiert, was diese sehr gerne tun. „Mit denen redet ja keiner über Politik. Politikunterricht gibt es oft gar nicht“, sagt Günter. Für sie ist es fatal, dass gerade in dieser Gruppe sich keiner für politische Bildung zuständig fühlt. „Wie sollen die sich denn eine politische Meinung bilden?“
Bei dem Thema „Flüchtlinge“, das viele Jugendlichen regelmäßig auf die Agenda haben, vergehen ihr Hören und Sehen. Jeder Flüchtling bekomme an der Grenze ein Smartphone, das finde sie nicht gut, beschwerte sich eine Schülerin. Allgemeines Nicken. Auf die Rückfrage, woher sie denn die Info habe, kommt: „Das weiß man doch.“ – „Stimmt das etwa nicht?“, möchte ein Junge wissen. „Natürlich nicht! Habt ihr keinen Politikunterricht?“ fragt Günter dann zurück. „Nein, nie gehabt“, lautet die Antwort.
Mirijam Günter will nicht nur die Augen für den Schatz des Schreibens öffnen, sie will auch umgekehrt die Öffentlichkeit sensibilisieren für das, was da vor den Augen der so genannten Mehrheitsgesellschaft vor die Wand fährt. „Das sind Jugendliche, die kennen nur den Mangel: Mangel an Geld, an Anregung, an Ansprache, an Zuwendung, an Perspektive.“ Oft kämen sie aus völlig zerrütteten Familien. Bis zur zehnten Klasse bewegen sich die Haupt- und Förderschüler immerhin im Schutzraum Schule. „Und dann?“, fragt Günter. Und wundert sich, dass sich diese Frage kein Politiker dringend stellt.