Köln – Regel Nummer eins: Überlass’ nichts dem Zufall.
Ich habe Freunde gefragt. Ich habe die Eltern von Freunden gefragt. Und die Freunde von Eltern von Freunden. Ich habe die Musik gehört. Ich habe gelesen. Ich kenne ihn jetzt, den Unterschied zwischen Blues-Rock und Hard-Rock und den zwischen amerikanischem Stil und britischem. Ich bin vorbereitet.
Ich werde sie erkennen, die Jungs von ZZ Top, falls ich ihnen abseits der Bühne vom Tanzbrunnen begegnen sollte, wo sie auf ihrer La Futura Tour Station machen. Oder zumindest werde ich jeden erkennen, der Hut, Sonnenbrille und einen irrwitzig langen grau-blonden Rauschebart trägt.
Regel Nummer zwei
Regel Nummer zwei: Sei auf alles gefasst.
Noch ist Zeit, sich umzusehen. Es ist voll hier, im Deutzer Tanzbrunnen. Sicher 5000.
Was hatte ich erwartet?
Einsame Wölfe in Lederkluft, zwischen 50 und 60, mit langen Haaren, die, einen Arm in die Luft gestreckt, in sich versunken auf den Fußspitzen wippen.
Ich hatte erwartet aufzufallen, zu jung zu sein für das hier, zu verplant, zu wenig bei der Sache, zu sehr Normalo.
Vorgruppe ist die Ben Miller Band, und sie wird gefeiert. Die drei Jungs auf der Bühne sehen aus, wie eine jüngere ZZ Top-Version, nur sind die Bärte kürzer, die Stimmen heller, ist die Musik ein bisschen mehr „Country“.
Ich habe keine Ahnung, was sie da spielen, aber es macht Laune. Und während ich anfange, auf den Fußspitzen zu wippen, drückt sich ein rothaariger Knirps von etwa elf Jahren an mir vorbei. In Dreiergrüppchen stehen hier und da: Vater, Mutter und halbwüchsiger Sohn beieinander. Ein Stück weiter starrt mich ein Einjähriges mit großen Augen aus dem Kinderwagen an.
Regel Nummer drei
Ja, es gibt sie auch hier, die alten Jungs mit langen Haaren, Lederjacke und Spinnentattoos auf den Ellenbogen. Aber sie sind, tatsächlich, in der Minderzahl. Und ich bin weder die Normalste hier, noch die Jüngste.
Regel Nummer drei: Tu so, als ob du dazu gehörtest.
Auf den Videoleinwänden auf der Bühne winden sich überdimensionale Klapperschlangen durch den Wüstensand, bevor das blutrote Doppel-Z die Hauptband ankündigt. Ich kann sie nicht gleich sehen (ein riesiger junger Mann mit Glatze steht genau vor mir), aber ich kann sie hören, bevor sie angefangen hat zu spielen, denn um mich herum flippen alle ein bisschen aus. Während der ersten Takte von „Got me under pressure“ reift die nächste Erkenntnis: ich falle hier nicht auf.
Regel Nummer vier
Und das, obwohl ich auch Regel Nummer vier beherzigt habe: Geh niemals allein ins Unbekannte. Und nun stehe ich hier, zwischen Menschen, die die Geburtsstunde des Rock noch persönlich miterlebt haben, und an meiner Seite ein Mann im Anzug. Er ist aus dem Büro gekommen, keine Zeit mehr zum Umziehen. Blick nach rechts und nach links: Niemand beachtet uns. Ob es daran liegt, dass er die Krawatte vorher abgelegt hat?
Bei Song Nummer zwei folgt die nächste Erkenntnis: Blues-Rock-Fans sind unglaublich tolerant. Oder unglaublich wenig an anderen Menschen interessiert, wenn ZZ Top auf der Bühne stehen.
Regel Nummer fünf
Regel Nummer fünf: Sammele Fakten.
Trotz aller Recherche im Vorfeld: Die meisten Titel kenne ich nicht. Und irgendwann zwischen zwei Songs, in denen auf jeden Fall Mississippi eine Rolle spielt (der Staat? Der Fluss?), driften, ich gestehe es, meine Gedanken davon, und ich frage mich: Sind die Bärte eigentlich echt? Angeblich tragen sie die seit den 70er Jahren. Davon können sich all die Hipster mit ihrem Dreitagegestrüpp (auch von denen sind heute welche hier) eine Scheibe abschneiden. Wie auch von der Kondition der Drei auf der Bühne, die gerade 5000 Menschen mit „Gimme all your lovin’“ (kenn ich) zum Durchdrehen bringen.
Regel Nummer sechs
Regel Nummer sechs: Misstraue allem, was du siehst.
Angeblich wurden die Drei von ZZ Top alle 1949 geboren. Wer soll das denn glauben? Auf den Bühnenleinwänden werden jetzt Videos gezeigt, in denen schöne Frauen in schönen Autos durch die Wüste fahren und den Eindruck vermitteln, die Bekanntschaft mit ihnen setze eine gewisse körperliche Grundfitness voraus.
Vielleicht sind sie gar nicht so alt, wie sie tun. Und mal ehrlich, wer ist hier eigentlich wer? Gitarrist (angeblich Billy Gibbons) und Bassist (angeblich Dusty Hill) sehen, zumindest aus 50 Metern Entfernung, hinter ihren Bärten ziemlich gleich aus. Vielleicht sind das gar nicht ZZ Top. Gut, Schlagzeuger Frank Beard gibt sich zu erkennen, der ist, ungeachtet des Nachnamens tatsächlich rasiert. Ich werde das heute nicht lösen. Aber es ist beruhigend, zu wissen, dass es nicht Panda-Cro oder Kiss mit ihrem seltsamen Harlekin-Make-up waren, die die Maskerade auf der Bühne zum Stilmittel erhoben haben.
Regel Nummer sieben
Regel Nummer sieben: Werde eins mit deiner Umgebung.
Und es ist schön, zu erfahren, dass diese Männer mit Hut und Sonnenbrille (Jetzt spielen sie auch noch einen Song namens „Cheap sunglasses“!), deren Bühnenshow sich auf die Videos und ein paar Lichteffekte beschränkt, ihren generationsübergreifenden Fanclub von ein paar Tausend auch 45 Jahre nach der Bandgründung in Houston, Texas noch so begeistern können. Es dauert eine halbe Stunde, dann tanzen alle, die Kleinfamilie neben mir, der Typ mit der beigefarbenen Lederjacke, die Blondine mit den Cowboy-Stiefeln. Und Billy Gibbons ruft einen von ganzen drei Sätzen, die er an diesem Abend von sich geben wird, in die Menge: „Are you havin’ a good time?“ – Hell, Yeah.
Auf Wiedersehen, Texas.
Die letzte Erkenntnis des Tages: ZZ Top gehören nicht zu den Bands, die nach einer Stunde mit mysteriöser Aura verschwinden und allem Jubel zum Trotz nicht mehr auftauchen. Als Zugabe spielen sie „La Grange“. Und jetzt, spätestens, ist es auch um uns geschehen. Wir spüren den Fahrtwind in den Haaren, schmecken den Staub auf der Zunge. Kakteen ziehen an uns vorbei. Vor uns liegt die Route 66. Wir tanzen. Wir gehören dazu.
Ein Typ in Lederjacke tippt meinem Begleiter auf die Schulter, schaut an ihm herab.
„Sach mal, Jung, wat ist denn mit dir los? Von welcher Hochzeit bist du denn geflohen?“
Auf Wiedersehen, Texas. Wir sind zurück in Köln. Wir sind aufgeflogen.