Rede im VideoWer ist die junge Dichterin von Bidens Amtseinführung?
Washington – Im Jahr 2036 will sie wieder hier stehen, auf der Tribüne an der Westfront des Capitols, den Blick auf das Washington Monument gerichtet. Mit ihren erst 22 Jahren ist Amanda Gorman nicht nur die jüngste Dichterin, die jemals bei der Amtseinführung eines amerikanischen Präsidenten gesprochen hat, seit John F. Kennedy vor 60 Jahren den damals 86-jährigen Robert Frost gebeten hatte, zu seiner Inauguration zu sprechen.
Gorman ist auch die erste Autorin, die eigene Ambitionen auf das höchste Amt der USA verkündet hat: 2036 will sie kandidieren, es ist die erste Präsidentenwahl bei der sie das vorgeschriebene Mindestalter von 35 Jahren erreicht haben wird.
In „The Hill We Climb“ („Der Berg, den wir besteigen“), dem Gedicht, das Amanda Gorman für den Staatsakt geschrieben und am Mittwochmorgen im leuchtendgelben Prada-Mantel und mit knallrotem Haarreif für ein Millionenpublikum vorgetragen hat, mit Senatoren und Präsidenten im Rücken, beschreibt sie sich selbst als „ein dünnes schwarzes Mädchen, das von Sklaven abstammt und bei einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen ist“, und das davon träumen kann, „Präsidentin zu werden, um dann ein Gedicht für einen vorzutragen“.
Dieses Gedicht ist offensichtlich für den öffentlichen Vortrag geschrieben worden, seine Zeilen erinnern mal an fröhlich alliterierende Slam-Poetry, mal an lautmalerische Rap-Lyrics, und manchmal gar an eine mitreißende Kriegsrede, bei der sich ob der wundersamen Resilienz des angesprochenen Volkes Trauer in Reife, Verwundungen und Hoffnung verwandeln: „Even as we grieved, we grew/ Even as we hurt, we hoped.“
Die junge Poetin vor dem Capitol rezitierte mit Lust am Sprachspiel, anmutigen Gesten und tadelloser Phrasierung. Das Medienecho fiel dementsprechend überwältigend aus, da konnte noch nicht einmal Lady Gagas berückendem „Evita“-Moment beim Schmettern des „Star-Spangled Banner“ mithalten.
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Gormans große Erwartungen sind nicht unberechtigt: Mit 16 Jahren kürte ihre Heimatstadt Los Angeles sie zur „Youth Poet Laureate“, drei Jahre später, 2017, wurde sie zur ersten „National Youth Poet Laureate“ ausgerufen, während sie in Harvard Soziologie studierte.
In einem Porträt der „Los Angeles Times“ erzählt sie, wie sie zum allerersten Mal Sprache mächtig in sich widerhallen fühlte, als eine Lehrerin aus Ray Bradburys Kurzgeschichtensammlung „Löwenzahnwein“ vorlas, und auch, wie sie in der zweiten Klasse zum ersten Mal vor Publikum sprechen musste, einen Monolog als sterbender Anführer eines Seminolen-Stammes hielt und dabei ganz in ihrer Rolle aufging.
Sprachfehler wie Biden
Trotzdem fallen ihr öffentliche Auftritte, sagte Gorman der „Los Angeles Times“, bis heute schwer, denn lange Zeit musste sie gegen einen Sprachfehler ankämpfen, konnte kein „R“ bilden. Gerade diese logopädische Herausforderung aber verbindet sie mit dem neuen Präsidenten: Joe Biden ist Stotterer, und hält die Symptome in Schach, in dem er regelmäßig vor dem Spiegel Gedichte deklamiert. Es war die First Lady, Jill Biden, die Amanda Gorman dem Inaugurationskomitee für vorgeschlagen hatte.
Während Gorman an dem wichtigsten Gedicht ihres Lebens arbeitete, jeden Tag nur wenige Zeilen, weil man ja auch einen hohen Berg nicht in einem Anlauf besteige, lauschte sie den Soundtracks von Serien und Filmen, in denen große Staatsmänner porträtiert werden, „Lincoln“, „Die dunkelste Stunde“, und außerdem dem Original Cast Album von „Hamilton“: Einige Zitate aus Lin-Manuel Mirandas Gründervater-Musical, dem großen amerikanischen Kunstwerk der Obama-Ära, haben es denn auch in „The Hill We Climb“ geschafft.
Nach dem Sturm
Wirklich lebendig geworden, sagt Gorman, sei ihr Gedicht jedoch erst, als sie es nach dem Sturm auf das Capitol noch einmal bis spät in die Nacht hinein überarbeitete, als sich bedrohlich drängende Geschichte in die zuvor doch eher brav inspirativen Zeilen einschrieb: „Wir haben eine Macht gesehen, die unser Land lieber zertrümmern würde als es miteinander zu teilen“, trug Gorman am Mittwoch vor: „Dieses Vorhaben war beinahe erfolgreich, aber selbst wenn die Demokratie zeitweise aufgehalten werden kann, dauerhaft besiegt werden kann sie nicht.“