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Anne Franks beste Freundin„Sie liebte das Leben so sehr“

Lesezeit 4 Minuten

90 Jahre alt ist Jacqueline van Maarsen im Januar geworden.

Köln – Jacqueline van Maarsen war ein stilles, zurückhaltendes Kind. Als sie im Herbst 1941 nach Hause ging vom ersten Schultag in dem Jüdischen Gymnasium in Amsterdam, in das sie als „Halbjüdin“ von den deutschen Besatzern gezwungen worden war, lief ihr ein Mädchen hinterher und rief ihren Namen. „Sie redete und redete und redete. Das war lustig“, erinnert sich van Maarsen. „So ist unsere Freundschaft entstanden, gleich am ersten Tag.“ Das Mädchen hieß Anne Frank.

Für die App „WDR AR 1933-1945“ (siehe Kasten) hat sich van Maarsen filmen lassen und über ihre Freundschaft berichtet. Am Mittwoch kam sie mit ihrem Mann und Enkelsohn nach Köln, um das Projekt vorzustellen. 90 Jahre alt ist sie mittlerweile, fast 77 Jahre ist es her, dass sie Anne zuletzt sah. Aber die Erinnerung ist noch immer lebendig. „Anne lebte sehr intensiv, sie wollte alles ausprobieren.“ Sie selbst sei ganz anders gewesen. „Ich sagte zu Anne: Wie kann es sein, dass wir so gute Freundinnen sind, wenn wir doch so verschieden sind? Und sie sagte – und das fand ich eine schlaue Antwort: Wir ergänzen uns gut.“

Keine Zeit Abschied zu nehmen

Als Anne 1942 mit ihrer Familie untertauchen musste, gab es keine Zeit für einen Abschied. In ihr Tagebuch schrieb Anne einen Brief an die Freundin, den diese nach dem Krieg von Otto Frank erhielt. „Ich kann nicht an jeden schreiben, und darum tue ich es auch nur an dich. Ich nehme an, dass du mit niemanden über diesen Brief sprichst und von wem du ihn bekommen hast, auch nicht“, heißt es in dem Brief. „Ich hoffe, dass wir einander bald wiedersehen, aber es wird vermutlich nicht vor dem Ende des Krieges sein.“ Unterschrieben sind die Zeilen mit „Deine beste Freundin Anne“. Jacqueline las diese Zeilen erst, als sie schon wusste, dass Anne von den Nazis ermordet worden war.

Jacqueline van Maarsen und Anne Frank

Jacqueline (l.) und Anne als Schülerinnen in Amsterdam.

Über die verschwundene Freundin durfte das junge Mädchen zu Kriegszeiten nicht sprechen. Ihre christliche Mutter Eline hatte sich an die Entscheidungsstelle für „rassische Zweifelsfälle“ gewandt. Ihre katholisch erzogene Tochter sei nur durch ein Versehen der jüdischen Gemeinde zugerechnet worden. Der deutsche Jurist Hans Calmeyer entschied daraufhin, das Mädchen als „nicht-jüdisch“ einzustufen. Jacqueline kam erneut auf eine andere Schule, über die Vergangenheit und damit auch über Anne konnte sie dort nicht reden. Es wäre zu gefährlich gewesen.

Über die viel zu kurze Zeit, die sie mit Anne erlebte, sprach sie auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges lange Zeit nicht. „Ich wollte meine eigene Identität bewahren. Ich wollte nicht nur die Freundin von Anne Frank sein“, sagt sie. 40 Jahre lang schwieg sie. Doch dann wurde ihr bewusst, wie wichtig das Erinnern ist. Seither spricht sie in Schulen über ihre Freundschaft und ihr Leben im besetzten Amsterdam. Sie hat auch ein Buch darüber geschrieben. Auch heute noch ist ihr vor allem Annes Energie im Gedächtnis: „Sie liebte das Leben und genoss es so sehr, dieses kleine, kurze Leben, das sie hatte. Als ob sie wusste, dass es nur ein kurzes Leben ist.“

„Traurig und ohne Hoffnung“

In der App erinnert eine andere gute Freundin Annes, Hannah Goslar, an ihre letzte Begegnung mit Anne im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Sie konnten nur über einen Zaun miteinander sprechen. Die Begegnung mit dem einst so fröhlichen, lebensfrohen Mädchen war erschütternd. „Sie war ein gebrochener Mensch. Traurig, ohne Hoffnung, schrecklich“, so Hannah. Kurze Zeit später starb Anne Frank, nur wenige Wochen vor der Befreiung des Lagers.

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„Ich will fortleben, auch nach meinem Tod“, schrieb sie in ihr Tagebuch. Heute ist sie weltberühmt. Für ihre Freundin Jacqueline ist das tröstlich und schmerzvoll zugleich. Annes großer Wunsch hat sich erfüllt, aber sie durfte nicht erleben, welche Macht die Worte eines jungen Mädchens bis heute haben.

Die WDR-App

Am 12. Juni dieses Jahres wäre Anne Frank 90 Jahre alt geworden. Der WDR wird zu diesem Anlass die Erinnerungen von Jacqueline van Maarsen und Hannah Goslar in der App „WDR AR 1933 – 1945“ veröffentlichen. Wie Hologramme bettet die App die beiden Schulfreundinnen in die jeweilige Umgebung des Users ein. In der kostenlosen App können die Nutzer zudem Erlebnisse von Kriegskindern anschauen und anhören. Die App wurde bisher mehr als 180 000-mal heruntergeladen und wird auch an Schulen eingesetzt.

„Meine Freundin Anne“ erscheint am 12. Juni und ist gratis erhältlich für iOS und die meisten Android-Geräte.