Köln – Rasseln schüttelnd bahnt sich der DJ seinen Weg von der kleinen Bühne in der Mitte der Lanxess-Arena durch die Menge, schüttelt seine Locken, streckt seinen schmalen Körper. Ruft auf zum großen Fest, zum gemeinsamen Feiern. Nur dass da eben gar keine Menge ist. Die Oberränge sind abgehängt, die Unterränge spärlich besetzt, der Innenraum bestenfalls zu zwei Dritteln gefüllt: Es sind nur knapp 4000 Zuschauer. Der tapfere Animateur kann hier einfach durchtanzen, der Weg ist frei. So wird das nichts mit dem unausgesprochenen Ehrgeiz der kanadischen Band Arcade Fire, die nächsten U2 zu werden.
Dabei standen doch alle Zeichen auf „Go“. Das neue Album „We“ verkündete seinen Anspruch schon im Titel: Lasst uns eine große Gemeinschaft bilden. Und die Musik darauf schlägt einen Bogen zurück zu den nahezu mythischen Anfängen der Band, als Arcade Fire mit dem moralischen Furor junger Menschen Bühnen stürmte, als sie zu viele auf zu engem Raum waren, auf alles einschlugen, was sich spontan als Percussion-Instrument anbot und mit wilden Fußballchören das Ende der Ironie verkündeten.
Aber dann enthält „We“ auch nichts, was sie nicht früher besser hinbekommen hätten, das ist ja immer das Problem, wenn sich Künstler auf ihre besten Zeiten zurückbesinnen. Win Butler und seine spätere Ehefrau Régine Chassagne haben Arcade Fire vor mehr als 20 Jahren in Montreal gegründet, Abnutzungserscheinungen sind da nicht nur erlaubt, man kann sie sogar liebgewinnen. Doch Ende August, wenige Tage vor Beginn ihrer Welttournee, veröffentlichte die Indie-Musikbibel pitchtfork.com einen Artikel, in dem drei Frauen und eine Transperson schwere Vorwürfe gegen Win Butler erheben. Sie reichen von ungewolltem Sexting bis hin zur sexuellen Belästigung und haben die treue Fangemeinde der Band in eine schwere Glaubenskrise gestürzt.
Die Stimmung in der Lanxess-Arena ist nur schwer zu heben
Nach zwei Auftakt-Konzerten in Dublin verließ Singer-Songwriterin Feist, die auf den europäischen Konzerten das Vorprogramm bestreiten sollte, die Tour mit einem langen Statement, in dem sie ihren Zwiespalt öffentlich macht: „Wenn ich auf der Tournee verbliebe, würde das bedeuten, dass ich den von Win Butler verursachten Schaden entweder verteidige oder ignoriere, und wenn ich die Tournee verlasse, würde das bedeuten, dass ich der Richter und die Jury bin.“ Aber am Ende habe sie keine Alternative gesehen, als zu gehen.
In Köln bemüht sich nun die verdiente haitianische Band Boukman Eksperyans darum, die Stimmung zu heben, mit nur wenig mehr Erfolg als der Rassel-DJ. Régine Chassagnes Familie war vor dem mörderischen Regime von François „Papa Doc“ Duvalier aus Haiti nach Montreal geflohen, darauf sang sie schon auf „Funeral“, dem ersten und bestem Arcade-Fire-Album. Seitdem hat die Band etliche Konzerte zugunsten des Karibikstaates gegeben. Ihr soziales Engagement wirkte niemals aufgesetzt, und wenn Win Butler in seinen Songs gelegentlich ins Predigen verfiel, so verzieh man das nur zu gerne, man liebte die Band ja gerade wegen ihrer ungelenken Ernsthaftigkeit.
Niederschmetternde Vorwürfe gegen Win Butler
Umso niederschmetternder wirken die Vorwürfe gegen den Sänger, umso schwacher erscheinen alle Versuche, sie zu relativieren: Da hätten sich andere doch Übleres geleistet; es sei nichts bewiesen, nur unterstellt; Butler sei eben auch nur ein privilegierter, egoistischer Rockstar; man müsse ihn nicht mögen, nur die Musik. Es hilft nichts, die Luft ist raus.
Ein mechanischer Flügel spielt „On the Sunny Side of the Street“, die LED-Bögen über der Hauptbühne fahren unter großem Getöse zurück, Win Butler steht herausfordernd nah an der Rampe, ein Fuß auf der Monitorbox, und singt vom „Age of Anxiety“: „Ich muss den Geist aus mir herausholen/ Diese Beklemmung, die in mir ist“. Doch dieser Exorzismus wirkt – im scharfen Kontrast zu früheren Auftritten der Band – bloß routiniert, ebenso wie die kurzen Standard-Ansagen ans Publikum.
Ein Lächeln und ein Bad in der Menge
Wie so oft wechselt auch diesmal die achtköpfige Band virtuos-chaotisch mitten im Song die Instrumente, allein Régine Chassagne springt an diesem Abend rastlos von Orgel, zu Keytar, Schlagzeug, Akkordeon und Gitarre. Die Fans im Innenraum wachen freilich erst auf, als mit „Neighbourhood #3“ eines der frühen, immer noch magischen Stücke erklingt. Jetzt sieht man Butler zum ersten Mal lächeln.
Vielleicht ist ja doch nicht alles verloren. Kurz darauf nimmt er ein Bad in der Menge, tanzt mit seinem Publikum, zieht mit den Mitmusikern wie ein Spielmannszug zur kleinen Zweitbühne. Dort stehen sie wieder so eng zusammen wie auf ihren ersten Konzerten, spielen erst ein neues Stück („The Lightning“), dann mit „Rebellion (Lies)“ einen weiteren Klassiker und dummerweise erinnert man sich prompt daran, was das mal für ein Stromschlag war, damals im Kölner Jugendpark, oder im Gebäude 9.
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Heute klingt „Rebellion“ wie ein mitreißendes und mitklatschbares Rockstück, aber bestimmt nicht mehr lebensverändernd. Regelrecht bizarr ist die Entscheidung, gleich darauf auf der großen Bühne mit „Wake Up“ den Höhepunkt jeder Arcade-Fire-Show im Mittelteil zu verschleudern.
Danach wirkt sogar „The Suburbs“, Butlers wehmütige Klage an die Vergänglichkeit großer Gefühle, wie eine sanfte Enttäuschung. Obwohl sie doch noch nie so wahr klang: Es führt kein Weg zurück in den Jugendpark. Das Ende der Show kommt recht früh, bunte Windmänner werden von Ventilatoren in die Höhe geblasen, schwanken zu „Here Comes the Night Time“ als kommentierten sie ein hohles Spektakel.
Den besten Moment des Abends liefert die erste Zugabe: Régine Chassagne wirbelt allein durch den Innenraum, klettert auf ein Klavier und singt im Widerschein einer großen Discokugel „Sprawl II (Mountains Beyond Mountains)“, ihre künstlerische Grundsatzerklärung. Dann folgt nur noch der Abba-mäßige Ohrwurm „Everything Now“. „We are in this together“, beschwört Win Butler sein Publikum. Nein, sind wir nicht. Wie es von hier aus weitergehen soll, das muss er mit sich allein ausmachen.