Auf ihn haben alle gewartet: Der Filmemacher Martin Scorsese wird mit dem Ehrenbären fürs Lebenswerk ausgezeichnet. Kaum einer hat Hollywood so sehr geprägt wie er – auch mit seinem aktuellen Film „Killers of the Flower Moon“.
Regiestar auf der BerlinaleHollywoods Hohepriester in Berlin: Martin Scorsese bekommt den Ehrenbären
Was wäre Martin Scorsese wohl für ein Priester geworden? Hätte er Gott ähnlich hingebungsvoll gedient wie dem Kino? Hätte er sich genauso ins Bibelstudium gestürzt wie in das Studium der Kinogeschichte? Und wäre er ebenso bis ins hohe Alter fasziniert geblieben vom ewigen menschlichen Ringen um Sünde und Vergebung?
Priester war der ursprüngliche Berufswunsch des 81-jährigen Regisseurs. Dann aber flog er von der Jesuitenschule und fühlte sich 1960 stattdessen an der New York University zum Filmstudium berufen. Die Faszination für den Glauben hat er nie verloren.
Schon sein Kinodebüt „Wer klopft denn da an meine Tür?“ (1967) handelte von katholischen Schuldgefühlen. Und mit „Die letzte Versuchung Christi“ (1988) brockte er sich größtmöglichen Ärger ein: Jesus (Willem Dafoe als Schmerzensmann) steigt vom Kreuz und gründet mit Maria Magdalena eine Kleinfamilie als Normalsterblicher.
Martin Scorseses Audienz beim Papst
So weit wie als Filmemacher hätte es Scorsese als Priester aber kaum gebracht. Außer er wäre Papst geworden, den er kürzlich für eine Privataudienz besucht hat. Kaum ein Text über Scorsese kommt ohne den Zusatz „der größte lebende Regisseur“ aus, kein Artikel ohne eine Portion Ehrfurcht. Diese Distanz verfliegt sofort, wenn man mal mit ihm zum Gespräch in einem Raum sitzt und sich von seiner atemlosen, geradezu explosiven Kinobegeisterung anstecken lässt.
Scorsese hat das US-Kino geprägt wie kaum ein anderer: Filme wie „Taxi Driver“ (1976), „Wie ein wilder Stier“ (1980), „Good Fellas“ (1990), „Gangs of New York“ (2002), „The Wolf of Wall Street“ (2013) oder – ganz aktuell – „Killers of the Flower Moon“ gehören zu den Meisterwerken in der Geschichte Hollywoods. Manche nennen ihn den Chronisten des amerikanischen Traums - allerdings von dessen düsterer Seite.
Dass die Berlinale Scorsese nun mit dem Ehrenbären fürs Lebenswerk ehrt, ist umgekehrt auch eine Auszeichnung fürs Festival. Scorsese und Berlinale-Chef Carlo Chatrian können gut miteinander: Der US-Regisseur gehörte zu den Unterzeichnern des offenen Briefes, mit dem internationale Kinoprominenz die rüde Ablösung des Künstlerischen Direktors Chatrian durch die deutsche Kulturstaatsministerin vergeblich zu verhindern versuchte.
Gekommen ist Scorsese in den vergangenen Jahre aber nicht mehr, so wie früher mit der Rolling-Stones-Doku „Shine a Light“ (2008) oder dem Thriller „Shutter Island“ (2010). Nun schafft Scorsese es zumindest zu einem Abschiedsbesuch in Chatrians letztem Dienstjahr nach Berlin.
Einen eigenen Film hat Scorsese nicht im Gepäck (so wie im Vorjahr Steven Spielberg „Die Fabelmans“). Sein aktuelles Drama „Killers of the Flower Moon“ über historisch belegte Morde in einem Indianerreservat spielt ganz oben bei der Oscar-Vergabe im März mit. Den Film präsentierte er lieber bei der Konkurrenz in Cannes. Den Oscar als bester Regisseur, man glaubt es kaum, hat Scorsese erst einmal mit dem Mafiaepos „The Departed“ (2006) gewonnen (sein letzter gemeinsamer Film mit Michael Ballhaus hinter der Kamera).
Mit „Killers of the Flower Moon“ hat sich für Scorsese ein Kreis geschlossen: Erstmals bringt er seine beiden Schauspiel-Heroen Robert De Niro und Leonardo DiCaprio zusammen. Dass DiCaprio sein Sohn im Geiste ist, so wie früher De Niro sein Bruder im Geiste war, ist offensichtlich. De Niro hatte seinem Lieblingsregisseur DiCaprio empfohlen, als dieser sich noch als verliebtes Jüngelchen auf dem Unterdeck der „Titanic“ tummelte.
Katholizismus, Familie, Gewalt
Scorsese Biografie spiegelt sich in seinen Filmen. Aufgewachsen ist der Sohn italienischer Eltern in einer Großfamilie in Little Italy in New York. Immer wieder freitags kamen Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins zusammen und schauten auf einem winzigen Fernseher Filme aus der alten Heimat. Katholizismus, Familie, Gewalt auf der Straße direkt vor der Haustür – all das spielt in seinem Werk eine entscheidende Rolle. Er wurde zum Chronisten der Geschichte New Yorks mit Filmen wie „Mean Streets – Hexenkessel“ (1973) oder „New York, New York“ (1977).
Berühmt machte Scorsese der Cannes-Siegerfilm „Taxi Driver“. Aber nicht nur ihn: De Niro und die blutjunge Jodie Foster etablierten sich als Stars, ebenso Drehbuchautor Paul Schrader. Zugleich war dies einer der letzten New-Hollywood-Filme. Damals zählte Scorsese zu den Jungen Wilden in Hollywood.
Das Blockbuster-Kino à la „Der weiße Hai“ oder „Krieg der Sterne“ war nichts für Scorsese. Er bevorzugte versehrte Helden wie den Taxifahrer und Vietnamveteranen Travis Bickle, der sich in blutigen Wahnwelten verliert. Bis heute trotzt Scorsese den Studiomächtigen persönliche Filme ab. Oder er nutzt die Streamingdienste als Financiers, solange diese ihm einen ordentlichen Kinostart garantieren. Angeblich hat er schon wieder neue Projekte über Jesus und US-Präsident Theodore Roosevelt in der Mache.
Wenn er nicht gerade dreht, dann widmet er sich der Filmrettung weltweit. Mit einer eigenen Stiftung setzt er sich für die Restaurierung wichtiger Werke ein. Bei ihm ist auch eine solche Mission persönlich: er korrespondierte genauso mit Akira Kurosawa wie mit Leni Riefenstahl.
Als vor ein paar Jahren eine Ausstellung über Scorsese im Berliner Filmhaus zu bewundern war, schickte Scorsese aus New York die dunkel schillernden Boxershorts und -handschuhe, die Robert De Niro alias Jake La Motta in „Wie ein wilder Stier“ trägt, und auch die schmale Axt, die Amsterdam Vallon alias Leonardo DiCaprio in „Gangs of New York“ schwingt. „Viele Ausstellungsstücke hingen bis eben noch in meiner Wohnung“, schrieb er dazu. Nun lagen die Stücke wie Reliquien auf sanft beschienenen Kissen im Filmhaus. Es fühlte sich wie in einer Kinokirche.