Böse, brutal und überwältigendDeshalb ist die Serie „Squid Game” ein weltweiter Hit
Man muss kein Hellseher sein, um vorauszusagen, welches Kostüm dieses Jahr der große Renner an Halloween sein wird: Roter Ganzkörper-Overall mit Kapuze, schwarze Fechter-Maske mit einem Dreieck, Quadrat oder Kreis darauf.
Konkurrenz könnte dieses Outfit höchstens von der Kombination grüner Jogging-Anzug und weiße Sneaker erhalten. Auslöser für den Hype ist die koreanische Serie „Squid Game“, die seit Mitte September bei Netflix zu sehen ist. Dort sind die roten Overalls und grünen Sportklamotten zentraler Bestandteil.
Vor wenigen Tagen gab der amerikanische Streaming-Dienst bekannt, dass „Squid Game“ die bisher erfolgreichste Netflix-Serie ist. Offiziell hat sie 111 Millionen Zuschauer erreicht – wobei schon eine Streamingdauer von zwei Minuten reicht, um gezählt zu werden.
„Squid Game“ erreichte die Zuschauerzahl in nur 27 Tagen. Der vorherige Rekordhalter war das britische Kostümdrama „Bridgerton“, das ab Dezember 2020 in den ersten 28 Tagen von 82 Millionen Zuschauern gestreamt worden war. In 90 Ländern war „Squid Game“ zwischenzeitlich auf Platz eins der Netflix-Top-Ten. Sie funktioniert offensichtlich überall.
Gigantischer Erfolg
Aber woher kommt dieser gigantische Erfolg einer Serie, mit deren Idee ihr Schöpfer, Regisseur Hwang Dong-hyuk, schon vor mehr als zehn Jahren erfolglos versuchte, ein Studio zu überzeugen? Eine Serie, die in einem Land spielt, über dessen Kultur die meisten Zuschauer außerhalb Südkoreas vermutlich wenig wissen. Und die viel zu brutal ist, um als massenkompatible Unterhaltung durchzugehen.
Die Grundidee der Serie ist, wie bei vielen Netflix-Produktionen schnell erzählt: 456 hoch verschuldetete Teilnehmer, deren Leben in Trümmern liegt, werden an einen geheimen Ort gebracht und müssen dort in sechs Kinderspielen gegeneinander antreten. Der Sieger geht mit mehr als 30 Millionen Euro nach Hause. Was harmlos klingt, hat einen makabren Haken: Wer es nicht in die nächste Runde schafft, scheidet aus – und wird augenblicklich getötet.
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Mit jedem Toten füllt sich das riesige Sparschwein, das an der Decke hängt, mit neuen Geldbündeln. Das klingt nach „Hunger Games“ oder dem Roman „Todesmarsch“, den Stephen King schon Ende der 70er Jahre unter seinem Pseudonym Richard Bachman veröffentlichte.
Neu ist die Idee tatsächlich nicht, aber die Kombination von einem Kampf auf Leben und Tod mit Spielen, die an die Kindheit und damit meist an unbeschwerte, bessere Tage erinnern, ist besonders perfide. Und erzeugt eine ungeheure Wucht. Auch Kinder sind oft mit heiligem Ernst bei der Sache, aber wer beim Murmelspiel verliert, verliert nicht gleich sein Leben. Hier ist das anders.
Hier ist nichts subtil
Hwang Dong-hyuk kam die Idee zu Serie während der Finanzkrise 2008. Wachsende soziale Ungleichheit, Diskriminierung sozialer Minderheiten und ein extremer Leistungsdruck: Fast alle großen Gesellschaftsprobleme werden in „Squid Game“ thematisiert. In einem Interview sagte der Regisseur, dass er das „Überlebensspiel als eine Metapher, eine Parabel für die moderne kapitalistische Gesellschaft“ darstellen wollte.
So groß ist die Verzweiflung der Teilnehmer, dass fast alle nach einem Abbruch des gesamten Wettbewerbs nach der ersten Runde freiwillig an den Ort des Grauens zurückkehren. „Das Leben hier draußen ist noch viel höllischer“, konstatiert ein alter Mann lapidar. Der Alltag ist der größere Albtraum, denn bei diesem Spiel gibt es zumindest eine minimale Chance zu gewinnen.
Es ist eine Welt, wie sie auch im südkoreanischen Oscar-Erfolg „Parasite“ schonungslos offengelegt wurde. Wer nicht mithalten kann im Rennen um Geld und gesellschaftliche Anerkennung, ist nichts wert und muss sein Leben einsetzen, um der Abwärtsspirale zu entkommen.
Und die, die immer reicher werden, betrachten das Elend der anderen als entspannendes Freizeitvergnügen und setzen hohe Summen darauf, wer ausscheiden wird – also stirbt. Subtil ist in „Squid Game“ nichts, die Botschaften muss man sich nicht erschließen, sie werden einem ständig entgegengeschleudert.
Permanente Reizüberflutung
Diese große Direktheit findet sich nicht nur auf der inhaltlichen, sondern auch auf der Ebene der Bilder. „Squid Game“ ist eine permanente Reizüberflutung. Die charakteristischen Anzüge von Wachen und Teilnehmern sind da nur ein Baustein.
Die tödlichen Wettbewerbe finden auf überdimensionalen Spielplätzen statt, die in bonbonfarbener Harmlosigkeit einen grausamen Kontrast zu den blutigen Ereignissen bilden. Das Bettenlager erinnert zumindest zu Beginn an ein Ferienlager.
Geht es in Richtung Gemetzel, begleitet der Donauwalzer von Johann Strauss das Geschehen. Die pastellfarbenen Treppenhäuser erinnern an MC Escher. Im ersten Spiel wird eine riesige Puppe zur Mordmaschine.
Perfekt für die Social-Media-Zeit
Dieser hohe Wiedererkennungswert ist auch deshalb so wichtig, weil sie perfekt in unserer schnelllebige Social-Media-Welt passen. Das Internet wird geflutet von Beiträgen zur Serie, die den Hype immer weiter befeuern.
Und ausgerechnet diese Serie mit ihrer überdeutlichen Kapitalismuskritik macht nun viele Menschen sehr reich. Der Absatz von weißen Turnschuhen der Marke Vans, wie sie Darsteller in der Serie tragen, ist in den vergangenen Wochen angeblich um 7800 Prozent angestiegen, wie Branchendienste vermelden. Auch grüne Jogginganzüge und rote Overalls sind heiß begehrt.
Für die Süßigkeit, die im zweiten Spiel zentraler Bestandteil ist, stehen Kunden in Südkorea Schlange. Und obwohl die Serie – zumindest in Deutschland – erst ab 16 Jahren freigegeben ist, warnen Lehrer und Eltern, weil die Spiele ihren Weg auf Schulhöfe überall auf der Welt finden – mit teils brutalen Verläufen, bei denen wie kürzlich in Belgien die Verlierer verprügelt wurden.
Da gerät die eigentliche Botschaft schnell in Vergessenheit. Und auch Netflix wird den Erfolg vermutlich eher nicht wegen der wichtigen Kapitalismuskritik feiern: Die Serie ist nach Einschätzung des Unternehmens für Netflix beinahe 900 Millionen Dollar (etwa 775 Millionen Euro) wert.