Buch über NS-Zeit von Norbert Scheuer„In der Eifel hieß Hitler einfach Jupp“
- Norbert Scheuer fügt seinen hochgelobten Romanen über die Eifel ein Buch über die NS-Zeit hinzu.
- Er erzählt in Tagebuchform davon, wie ein Imker Juden zur Flucht über die Grenze verhilft.
- Im Interview verrät Scheuer, wie er auf das Thema kam und warum die Nazis in der Eifel eher verachtet wurden.
Köln – Herr Scheuer, am Ende Ihres Romans „Winterbienen“ gibt es eine Danksagung, wonach Ihnen einer der „Grauköpfe“ in der Cafeteria in Kall ein Tagebuch überreicht habe. Es handele sich um die Aufzeichnungen eines 1945 verstorbenen Imkers, der Ende des Zweiten Weltkriegs Juden über die Grenze nach Belgien geschmuggelt hat. Sind Sie tatsächlich auf diese Weise an den Stoff für „Winterbienen“ gelangt?
Na ja, alles ist Literatur. Es ist wie immer eine Vermengung von Realem und Erfundenem. Einen solchen Imker gab es tatsächlich. Durch ihn bin ich auf die Idee gekommen, den Roman zu schreiben. Dieser Wilhelm Müller hat in den letzten drei Kriegsmonaten ein Tagebuch geführt. Davon war schon einmal in einer Zeitungsserie in den 70er Jahren die Rede. Ich habe es dann in einer Chronik entdeckt. Da steht eine Passage drin, die von seinen Bienen und den Luftangriffen handelt – diese Kombination war ein Aha-Erlebnis für mich. Und dann gibt es von Dietrich Schubert den Film „Unverzeichnete Fluchtbewegungen“. Darin wird beschrieben, wie Eifeler Bauern in den Kriegsjahren, aber auch schon davor, Juden über die Grenze nach Belgien gebracht haben. Diese beiden Stränge in einem Roman zu verbinden, fand ich verlockend.
Spektakulär ist die Tarnung, die sich der Fluchthelfer ausgedacht hat: Egidius Arimond – der Held des Romans – steckt eine Bienenkönigin in einen Lockenwickler und heftet diesen an die Kleidung des Flüchtlings, worauf das Bienenvolk nicht nur die Königin, sondern auch die Person umhüllt und verbirgt. Das schien mir so extravagant, dass ich dachte, das kann gar nicht erfunden sein.
Auf jeden Fall stimmt es, dass die Imker die Königinnen für den Transport in Lockenwickler gesteckt haben, wenn beispielsweise ein Bienenvolk eine neue Königin brauchte. Heute macht man das natürlich anders. Aber in Kriegszeiten hat man sich so zu helfen gewusst. Und dass Königinnen am Körper fixiert werden, habe ich bei Imkern gesehen, die daraus eine Show machen, nachprüfbar auf You Tube. Diese Imker spielen dann den „Bienenmann“ und sind vor lauter Bienen kaum noch zu sehen. Die Bienen bleiben dabei vollkommen friedlich, weil sie nur bei ihrer Königin sein wollen.
Im Roman heißt es, dass das Kriegstagebuch des Egidius Arimond in einer alten Tasche gesteckt habe. Besitzen Sie auch so eine Tasche?
Ja, die alte Tasche gibt es. Allerdings hatte ich meine Frau gefragt, ob sie so ein Exemplar auftreiben könne. Das ist ihr tatsächlich gelungen.
Lockenwickler, Aktentasche - brauchen Sie konkrete Anschauungsobjekte beim Schreiben?
Eigentlich nicht. Das heißt: Einmal schon, als ich den Roman „Der Steinesammler“ schrieb, da hatte ich Steine um mich herum. Und auch jetzt war es für mich interessant, eine solche Tasche zu sehen.
Sie haben sich bei diesem Roman für die Form des Tagebuchs entschieden. Warum?
Mich reizt an diesem literarischen Tagebuch, dass es den Krieg gleichsam „objektiv“ beschreibt. Es gibt hier nicht die nachträgliche Reflexion, sondern es wird erzählt, was passiert.
Das könnte Sie auch interessieren:
Auf einer zweiten Ebene geht es um den Mönch Ambrosius, der ein Vorfahre von Egidius ist und um 1500 lebte. Wie kam er ins Buch?
Zum einen sind die Bienen des Egidius ganz besondere – es handelt sich um die Unterart Apis mellifera Carnica. Ich fragte mich: Wie sind diese Bienen, die so standorttreu sind, einst aus den Alpen in die Eifel gelangt? Und dann wollte ich schon immer einen Roman über das Herz des Cusanus schreiben. Ich habe mal in Bernkastel-Kues die Kapelle besichtigt, in der sich diese Reliquie des Nikolaus von Kues befindet. Da sagte der Mann, der uns das alles erklärte, der Transport des Herzens aus Italien und über die Alpen an die Mosel sei eine tolle Geschichte und bis heute noch nicht niedergeschrieben worden. Das Scharnier im Roman ist dann die Bibliothek, in der Egidius seine Informationen über die Flüchtlinge bekommt und wo er Schriften des Mittelalters studiert.
Den Flüchtlingen hilft er nicht nur aus Menschenliebe, sondern auch, weil er Geld für Medizin benötigt.
Die Eifeler Bauern haben das damals auch nicht umsonst gemacht. Wenn man sich den Film von Dietrich Schubert ansieht, dann bestätigen sie das in den Interviews. Aber sie haben auch ihr Leben riskiert. Das macht man normalerweise nicht für 200 Reichsmark. Also, das war sowohl human als auch pekuniär motiviert. Das gilt auch für den Egidius im Roman. Das macht ihn ja nicht unsympathisch. Er riskiert immerhin sein Leben.
Die Eifeler waren nicht wirklich gleichgeschaltet
Haben Sie die NS-Geschichte der Eifel recherchiert?
Dazu habe ich sehr viel gelesen. Ich musste mir auch all die unterschiedlichen Flugzeugmodelle aneignen. Das war damals Grundwissen eines jeden Kindes. Es gab damals ein kleines Heftchen über Feindflieger, das vom Reichsluftfahrt-Ministerium herausgegeben wurde und in nahezu jedem Haushalt vorhanden war.
Hat man in Ihrer Familie über die Nazi-Zeit gesprochen?
Sehr wenig. Aber ich bin in einer Kneipe aufgewachsen. Der Krieg hat in der Eifel nicht im Jahre 1945 aufgehört. Das ging in den Erzählungen an der Theke immer weiter. Besonders wenn die Gäste betrunken waren. Was im See versenkt, welcher Bauer in die Luft gesprengt worden ist – das habe ich, Jahrgang 1951, irgendwie mitgekriegt. Wenn wir als Kinder oder Jugendliche herumliefen, fanden wir überall altes Kriegsgerät, in der Scheune oder im Mist. Die Familie eines Freundes hatte einen Schrotthandel – da musste man nur hingehen und hatte schon einen Karabiner. Dann haben wir Banden gegründet und hatten diese Geschichten im Kopf.
Egidius Arimond ist ein Gegner der Nazis und nennt Hitler immer nur „Jupp“. Wie kamen Sie darauf?
Das ist keine Erfindung. Die Eifeler, sehr katholisch, haben sich gerne despektierlich über Hitler geäußert. Dazu gehörte, dass man den „Jupp“ nannte. Man hat ihn nicht ernst genommen. Und sie haben Juden über die Grenze gebracht. Davon wussten in den Dörfern sehr viele und haben es nicht verraten. Die Eifeler waren nicht wirklich gleichgeschaltet. Das ist jedenfalls meine Rezeption. Das heißt nicht, dass alle kritisch eingestellt waren.
Es gibt einige Stellen im Roman, in dem von Bienen die Rede ist, aber der Nazi-Staat gemeint scheint.
Ein wesentlicher Gedanke bei diesem Roman war für mich die Parallelführung von diesem totalitären Staat der Bienen und dem totalitären Staat der Nazis. Ich wollte das aber nie explizit machen. Und wer weiß, wohin die Evolution des Menschen noch führen wird. Vielleicht werden wir eines Tages auch in einem System wie dem der Bienen leben. Die informationelle Entwicklung führt auf jeden Fall dazu, dass wir immer stärker gleichgeschaltet werden. Dass wir immer mehr von uns abgeben und immer weniger individualistisch kommunizieren.
Zur Person und zum Roman
Norbert Scheuer, 1951 in Prüm geboren, veröffentlichte zuletzt den Roman „Am Grund des Universums“ (2017). Sein Roman „Überm Rauschen“ war 2010 das „Buch für die Stadt“ in Köln und der Region.
Sein Roman „Winterbienen“ erzählt von Egidius Arimond, der in den Jahren 1944 und 1945 in Kall in der Eifel als Imker tätig ist und Juden über die Grenze nach Belgien schmuggelt. Zudem recherchiert dieser Egidius die Geschichte eines Vorfahren, der um 1500 das Herz des Nikolaus von Kues an die Mosel gebracht hat. Ein faszinierender Roman über Bienen und Bomber, Honig und Hölle, Tod und Leben in Krieg und Diktatur; reich an wiederkehrenden Motiven, deren Variationen mal heller und mal dunkler klingen und auch in andere Scheuer-Romane hinüberreichen.
Premierenlesung aus „Winterbienen“ am 1. August um 19 Uhr im Kulturforum Gemünd (bei Schleiden). Der Eintritt ist frei. Im Kölner Literaturhaus stellt Norbert Scheuer seinen Roman am 1. Oktober vor.
Norbert Scheuer: „Winterbienen“, C. H. Beck, 320 Seiten, 22 Euro. E-Book: 17,99 Euro.