„Der Schlaf in den Uhren“Warum der neue Tellkamp doch lesenswert ist
Köln – Uwe Tellkamps „Der Turm“ kam so gut an, dass sich ein regelrechter Bildungstourismus am Ort des Geschehens entwickelte. Manche Lesende werden sich die Augen gerieben haben, wenn sie den ein oder anderen Ort im Dresdner Nobelviertel „Weißer Hirsch“ da aufsuchten, wo sie ihn im Roman gefunden hatten. Über eine Million Exemplare des „Turms“ sind seit 2008 verkauft worden. Der durch die Biografie des in Dresden geborenen Autors beglaubigte Familien-, Bildungs- und Gesellschaftsroman über die letzten Jahre der DDR wurde in 15 Sprachen übersetzt, mehrfach für die Bühne bearbeitet und 2012 für die ARD verfilmt, der Autor erhielt den Deutschen Buchpreis und den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Alle Welt hoffte auf eine Fortsetzung von Uwe Tellkamps „Turm“
Seit 2008 ist Zeit vergangen, viel Zeit, in denen Erwartungsfreude und Schreibdruck zunahmen. Alle Welt hoffte auf eine Fortsetzung des Romans. Der Autor versicherte uns gelegentlich über sein Fortschreiben und stellte kurze Auszüge vor. Dann kam es am 8. März 2018 in Dresden zu einem Medien-Eklat, als sich Uwe Tellkamp im Gespräch mit dem kosmopolitischen Autorenkollegen Durs Grünbein über die Frage der deutschen Einwanderungspolitik entzweite und über enger werdende „Korridore des Sagbaren“, über Sanktionen, Ächtungen, Ausgrenzungen klagte. Und als ob sich das Prophezeite selbst erfüllen müsste, so sah sich Tellkamp fortan in die Rolle eines rechten Wutbürgers und einer Persona non grata gedrängt, was er in dem 3sat-Film „Der Fall Tellkamp“ bekräftigte.
Das soll sich nun mit dem Erscheinen des zweiten „Turms“ ändern. Das Buch trägt den Titel „Der Schlaf in den Uhren“, der auf Tellkamps 2004 mit dem Bachmann-Preis gekrönter Erzählung zurück geht, und ist mit fast 1000 Seiten seinem Vorgänger treu. Auch die vertrauten Häuser und Straßenzüge sowie alte Bekannte aus dem „Turm“ tauchen wieder auf, jedoch in einem verwandelten Zusammenhang. Der neue Roman spielt in der jüngsten Gegenwart, im Sommer 2015, als die Flüchtlingszahlen stark zunahmen.
Der Plot ist in einem hanseatischen Stadtstaat namens Treva angesiedelt, einer Republik mit mediokratischer Prägung und kafkaesker Gestalt. Es gibt eine Trevische Nachrichtenagentur, die Zeitungen, Rundfunk und Internet kontrolliert, und politische Organisationseinheiten, die die Ordnungen von Staat und Alltag immer noch mit „Operativen Vorgängen“ aus der überwundenen Stasi-Zeit erkunden wollen. Kanzlerin dieses nicht so richtig wünschenswerten Staates ist Anne, die wir aus dem „Turm“ kennen. Die ehemalige Krankenschwester hat sich von dem Chirurgen Richard Hoffmann getrennt und den Architekten Volker Delanotte geheiratet. Mit ihrem ökonomischen Allroundwissen und ihrem Sinn fürs Pragmatische verkörpert sie die Vorwärtsdynamik der neuen Republik.
Ihr gegenüber steht der rückwärtsgewandte Fabian Hoffmann, der Sohn von Richards Bruder, eine Nebenfigur aus dem „Turm“. Fabian ist als Chronist im Zeitarbeiterkollektiv tätig. Er sitzt an einer Chronik, die zum 25. Jahrestag der Wiedervereinigung erscheinen soll. Als eigentlicher Erzähler in Tellkamps Roman führt er uns durch das trevische Behördenlabyrinth, erzählt Vorgeschichten von Bürgerrechtlern, Dissidenten und Mitläufern, schreibt Fraktur, frönt seiner Neigung zur Geografie und seiner rechten Liebe zur Literatur, vor allem zu den Gedichten von Gottfried Benn, der einmal ein „väterlicher Freund“ genannt wird, weil er „knapp den Schlager unterlief“ und skeptisch, nicht sentimental schrieb.
Tellkamp erzählt vom diffizilen Fortleben des Alten im Neuen
Das alles liest sich spannend verschachtelt, doch nicht von leichter Hand. Soll es aber auch nicht. Denn Uwe Tellkamp schreibt vom diffizilen Fortleben des Alten im Neuen, von sich überkreuzenden Altlasten und Fortentwicklungen: eine bedenkliche Utopie ohne Bestandsgarantie. Sein Erzähler hält die Zeit an, um sie besser, aus teilnehmender Distanz, beobachten zu können. Dieses Programm zeigt der Titel an: „Der Schlaf in den Uhren“ ist ein Roman aus einer anderen Zeit des vereinigten Deutschlands, ein Buch über die Zeit und ihre Macht, das sich wahrlich zu lesen lohnt. Zumal das Pathos des „Turms“ im zweiten Roman gedämpfter, die Struktur einsichtiger, die Beschreibungsdichte größer, der Reichtum an Anspielungen deutlicher geworden ist – allein was die Schriftsteller von Grass bis Tellkamp angeht, oder die Kanzlerin und ihren Vorgänger, das „Mammut“.
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Auch wenn Tellkamps Werk angesichts seiner Vorgeschichte nunmehr nicht für sich allein sprechen mag, taugt es als Schlüsselroman wenig. Seine Figuren stammen aus der dichterischen Einbildungskraft und haben, so heißt es im Vorsatz des Romans, „mit tatsächlich existierenden Menschen so viel gemein wie eine Skulptur mit dem Bildhauerton“.
Uwe Tellkamp: „Der Schlaf in den Uhren“, 904 Seiten, Suhrkamp, 32 Euro, E-Book: 27,99 Euro