Eckhart von Hirschhausen im Interview„Gesundheit ist heute wie eine Ersatzreligion“
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Köln – Der Arzt, Kabarettist und Autor Eckart von Hirschhausen über Wunder, die guten Seiten der Esoterik und die Fehler des Gesundheitssystems.
Herr von Hirschhausen, wegen seiner Quizsendungen halten manche Leute Günther Jauch für den klügsten aller Deutschen. Demnach sind Sie dann Deutschlands bester Arzt?
Bei Quizfragen gibt es eine richtige Antwort, die der Moderator kennt. Das ist in der Medizin selten so. Der Mensch ist zum Glück etwas komplexer – und deshalb ist ein guter Arzt jeder, der gemeinsam mit dem Patienten die besten Antworten sucht. Ich werde nächstes Jahr 50. Seit 40 Jahren interessiere ich mich für Zauberei, für Humor und für Medizin, körperliche und seelische Gesundheit.
Das sind meine Lebensthemen, die ich auf verschiedenen Wegen unter die Leute zu bringen versuche. Erst im Krankenhaus, dann als Journalist und Kabarettist auf der Bühne, und heute mit Büchern und Fernsehsendungen. Nach all den Jahren, in denen ich durch die Gegend getingelt bin und keiner etwas von dem wissen wollte, was ich anzubieten habe, gehe ich umso bewusster mit den Reichweiten um, die ich heute habe. Zum Beispiel bringe ich in jeder Sendung „Quiz des Menschen“ ein ernstes Element unter, was dann auf einen Schlag mehr als vier Millionen Menschen erreicht.
Sie wollen Ihrem Publikum etwas unterjubeln?
Wenn es dafür keinen Bedarf gäbe, würde das nicht so gut gelingen. Ich glaube einfach, die Leute wollen gar nicht nur bespaßt werden, sondern sie möchten – in ansprechender, unterhaltender Form – etwas verstehen: über sich, ihren Körper, ihren Geist und über deren Zusammenspiel. Ich mach’ Relevanz und Firlefanz gleichzeitig.
Um 20.15 Uhr braucht es die lustigen Spielchen, die Promis, die Albernheiten. Aber öffentlich-rechtliches Fernsehen darf darüber hinausgehen. Mein Lieblingsbeispiel: Nach einer Sendung über Herzdruck-Massage habe ich mehrere Briefe von Zuschauern bekommen, dass sie mit diesem Wissen jemandem das Leben gerettet haben. Eine Familie haben wir auch eingeladen und bis heute bekomme ich Gänsehaut bei dem Gedanken: „Mensch, der wäre tot ohne deine Sendung!“
Jetzt verkünden Sie „Wunder wirken Wunder“ – warum kommen Sie mit einem Begriff, der so sehr schillert, dass sogar die Buchstaben auf dem Cover Ihres Buches schraffiert sind?
Ich finde Wunder wunderbar! Der ganze Mensch ist ein Wunder. Jesus konnte Wasser zu Wein verwandeln, aber jeder Leser ist in der Lage, über Nacht aus dem ganzen Wein wieder Wasser zu machen. Wir wundern uns zu wenig.
Vieles von dem, was in unseren Kliniken heute Alltag ist, wäre früheren Generationen als absolutes Wunder erschienen. Und mit dem Wunderbegriff will ich zum Nachdenken anregen über die heilende Wirkung der Seelenkräfte, meinetwegen auch des „Übersinnlichen“.
Ist das nicht ein etwas schlaffer Wunder-Ballon, solange Sie ihn nicht religiös aufpumpen wollen?
Als ich anfing, mein Wunder-Buch zu schreiben, wollte ich den Glaubenskrieg zwischen Schul- und Alternativmedizin schlichten. Dabei wurde mir klar: Die beiden Seiten entsprechen zwei Seiten in uns, und historisch waren Medizin, Magie und Religion immer eng miteinander verwoben. Die Wissenschaft hat die Magie aus der Medizin vertrieben, aber nicht aus uns Menschen. Und deshalb finde ich: Wir brauchen wieder mehr positive Wertschätzung der „Magie“ in der Medizin.
Hört sich horrend unwissenschaftlich an, ich weiß. Aber Zuwendung, Berührung, heilsame Geschichten und Erklärungen, die auf die Gedankenwelt des Patienten eingehen, sind immer wichtige Bestandteile guter Medizin gewesen. Die Ärzte sollten sich wieder darauf besinnen, wie sie wirken mit dem, was sie sagen, und was sie bewirken, mit dem was sie tun.
Jeder Mensch hat heilende Hände
Ein Wunder, sagt man auch, ist immer das, was wir noch nicht erklären können...
Es wird immer Unerklärliches geben. Je mehr wir wissen, desto mehr wissen wir auch nicht. Warum es immer wieder „Spontanheilungen“ gibt, weiß Gott oder weiß der Geier und ich hoffe, dass es sich dabei um zwei verschiedene Instanzen handelt.
Und es wird immer ein Stück weit persönliche Entscheidung bleiben, ob man an einen Sinn im Leben glaubt, gar an etwas Göttliches – oder ob man die ganze eigene Existenz für einen kosmischen Zufall hält. Therapeutisch bin davon überzeugt, dass sozialer Rückhalt einer der großen Heilfaktoren ist – selbst bei Krankheiten wie Krebs. Ein Nachbar, der mit Mitte 30 an Krebs erkrankt war, erzählte mir ganz begeistert von einem Heilungsgottesdienst. Ich bin dann einfach mal mitgefahren, weil ich neugierig war, was da wohl passieren würde.
Und?
Ich fand das ausgesprochen bestärkend. Ich hatte schon Angst, es würde in die Richtung amerikanischer Fernsehprediger gehen, die so tun, als müssten alle nur intensiv genug beten, dann werde alles wieder gut. Das ist Unsinn. Der zweite, noch viel gefährlichere Unsinn ist es, den Leuten einzureden, sie seien krank, weil sie nicht genug geglaubt oder sonst etwas falsch gemacht hätten.
Ungezählte Krebspatienten laufen unnötigerweise mit Schuldgefühlen herum, weil irgendwelche Esoteriker ihnen erzählt haben, es gebe da in ihnen etwas, eine Kraft, eine unbewusste innere Stimme, die habe die Krankheit gewollt. Sie seien krank geworden, weil sie das Falsche gegessen oder ihre Steckdose nicht sorgfältig genug gegen Erdstrahlen abgeschirmt hätten. Daraus werden abstruse Therapien abgeleitet. Also, es gibt auch viel gefährlichen esoterischen Müll.
Aber es ist auch Wertvolles dabei?
Ich bin fest überzeugt von der stärkenden Kraft der Rituale, von Gemeinschaft, von guten Wünschen, die wir füreinander haben – ob man sie nun „Fürbittgebet“ oder „Segen“ oder sonst wie nennt. Eine Kerze anzünden, gemeinsam singen oder schweigen, sich in die Betrachtung eines Textes oder eines Gemäldes versenken – dabei kann unglaublich viel passieren.
Ich behaupte auch: Jeder Mensch hat heilende Hände. Wenn er sie nicht nur auf den eigenen Bauchnabel legt. Sondern wenn er einen anderen damit berührt, die Hand eines anderen hält, einem anderen etwas in die Hand gibt.
Manchmal liest man, gläubige Menschen seien gesünder als nicht gläubige. Wenn der Philosoph Feuerbach im 19. Jahrhundert von Religion als „Opium fürs Volk“ sprach, ist sie dann heute ein Therapeuten-Placebo für Patienten?
Patienten kommen heute zu Ärzten mit lauter Fragen, die früher die Pfarrer beantworten sollten, und Gesundheit ist so etwas wie eine Ersatzreligion geworden. Mich interessiert, was schützt unsere seelische Gesundheit, was gibt uns Kraft gegen Schicksalsschläge, neudeutsch: Was macht uns resilient?
Der wichtigste Schutzfaktor: so etwas wie Sinn im Leben zu erkennen; eine Vorstellung davon zu haben, wofür man gebraucht wird. Der zweite: von Menschen umgeben zu sein, die einem guttun. Der dritte Schutzfaktor ist Humor. Anders ausgedrückt: Alles sind „spirituelle“ Qualitäten, die in der Wissenschaft oft nicht berücksichtigt wurden, aber in den Religionen: Sinnhaftigkeit, sozialen Halt und – im günstigsten Fall – eine „frohe Botschaft“. Natürlich kann man all das auch außerhalb der Kirchen finden …
… Humor findet sich dort sogar eher selten, oder?
Die fundamentalistischen Ausprägungen jeder Religion richten unglaublich viel Schaden an, gerade weil sie so humorlos sind. Sie machen all das zunichte, was Menschen helfen und sie stark machen könnte. Aber da genau sehe ich eine Parallele zur Medizin.
Es ist genauso ermüdend und sinnlos, mit einem ideologischen Impfgegner oder einem fanatischen Veganer zu sprechen, wie mit einem fundamentalistischen Christen oder einem Islamisten. Und das erste verbindende Merkmal ist ihre komplette Humorlosigkeit. Deswegen gehe ich auch einen „dritten Weg“ im Glaubenskrieg zwischen Schul- und Alternativmedizin, der beide humorvoll miteinander zu versöhnen sucht. Sie sprachen übrigens in Ihrer Frage eben von einem „Placebo für Patienten“ …
… Ja, und?
Bei dem Wort denken viele Leute an Schein-Medikation, an die Täuschung von Patienten, die sich die Wirkungen bestimmter Medikamente nur einbilden. Totaler Quatsch! Es geht beim Placebo darum, den inneren Heiler oder die interne Apotheke – also die Selbstheilungskräfte des Menschen – zu aktivieren.
Eine Art Selbst-Suggestion?
Das klingt schon wieder nach einer höheren Form von Hokuspokus. Ist es aber nicht. Für alles, was ich in meinem Buch schreibe, habe ich über Jahre wissenschaftliche Studien rauf und runter recherchiert. Der Placebo-Effekt ist kein Freifahrschein dafür, dass irgendein Scharlatan mit den Ängsten der Menschen spielt und ihnen das Geld aus der Tasche zieht. Aber es gibt längst seriöse Forschung, die sagt: Wenn Sie dreimal die Wirkung einer Tablette erlebt haben, können Sie beim vierten Mal die gleiche Tablette ohne Wirkstoff nehmen – und sie hilft trotzdem. Weil der Körper gelernt hat, seine Selbstheilungskräfte anzuschmeißen. Das ist nicht nur für Schmerzmittel gut belegt, sondern auch für Medikamente mit starken Nebenwirkungen.
„Wir müssen gerade schmerzlich erkennen, wie krank auch unser gesellschaftliches Gefüge ist“
Sie zitieren Friedrich Nietzsche mit dem Satz, „Wer ein Warum hat, erträgt jedes Wie“. Ist unserer Gesellschaft mit all ihrem verbissenen Streit über angeblich unerträgliche Zustände das Warum abhandengekommen?
Der Materialismus kennt auf Dauer kein Warum. Das Versprechen, dass grenzenloses Wachstum uns immer glücklicher macht, ist Quatsch. Wenn etwas wächst und wächst und wächst, dann ist das krank. Im Körper nennen wir so etwas ein Krebsgeschwür. Und wir müssen gerade schmerzlich erkennen, wie krank auch unser gesellschaftliches Gefüge ist. Es gibt viele engagierte Menschen in diesem Land. Aber das Zusammengehörigkeitsgefühl schwindet.
Und dagegen gibt es keine Pille.
Je länger ich aus dem universitären Medizinbetrieb raus bin, desto klarer wird mir: Die großen Fragen nach Gesundheit und Krankheit werden wir nicht mit Grundlagenforschung an Enzymrezeptoren oder Hirnsynapsen lösen. Aber das Geld fließt mehr oder weniger uneingeschränkt in solche Experimente. Die Forscher freuen sich und schreien hurra, wenn sie einen Aufsatz in einem wissenschaftlichen Fachjournal veröffentlichen. Aber mit der Wirklichkeit des Lebens hat das nichts mehr zu tun.
Glauben Sie, dass wir eine Herausforderung wie die Flüchtlingskrise mit Ihren Mitteln bewältigen können – mit der Stärkung der Selbstheilungskräfte oder mit Humor?
Mein Studienfach heißt Humanmedizin. Ich glaube schon, dass uns die Rückbesinnung auf das „Humanum“, auf die Menschlichkeit guttäte, weit über den medizinischen Kontext hinaus. Ich habe an der Berliner „Charité“ studiert. Das klingt nur zufällig nach „Shareholder“. In Wahrheit steckt der Begriff Caritas darin: Nächstenliebe, Zuwendung. Ein Hospital heißt so, weil es für Gäste – Lateinisch „Hospes“ – bestimmt ist, als ein Ort der Gastfreundschaft. Wenn wir es einmal so sehen könnten, dass Deutschland international nicht mehr als Bedrohung gilt, sondern als ein attraktives, lebenswertes Land, dann wäre das doch ein Grund, froh und stolz zu sein. Tatsächlich bin ich das auch. Ich lebe sehr gern in Deutschland und will meinen Teil als Person des öffentlichen Lebens dazu beitragen, dass wir die großen Probleme gemeinsam lösen.