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Kommentar zum PlagiatsprozessLasst Ed Sheeran in Ruhe

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Ed Sheeran bei seiner Ankunft vor dem Londoner High Court

London – Gerichtszeichner müsste man sein. Was für ein charmant analoger Job, wie schön, dass es den immer noch gibt. Denke ich mir zumindest jedes Mal, wenn ich einen in Tusche, Kohle oder Pastell festgehaltenen Angeklagten erblicke. Andererseits: Es ist eine undankbare Kunst, denn eigentlich hätte man ja viel lieber eine Fotografie oder ein Filmdokument gesehen.

Gerade jetzt zum Beispiel, wo Ed Sheeran im Zeugenstand des Londoner High Court saß und dem hohen Gericht ein exklusives Ständchen brachte, ein Medley aus Nina Simones „Feeling Good“ und Blackstreets „No Diggity“. Das hätte ich schon gerne gehört, aber es existiert nur eine Zeichnung, noch dazu eine deren Ähnlichkeit sich vor allem aus dem korrekt getroffenen Haarton ergibt.

Ich schweife ab. Eigentlich wollte ich Ihnen erzählen, warum Sheeran ebenjene Lieder vor weißperücktem Publikum zum Besten gegeben hat. Nämlich um zu beweisen, dass die Melodie, die er angeblich gestohlen hat, in allen möglichen Pop-Songs vorkommt. Geklagt hatte ein gänzlich unbekannter Sänger namens Sami Chokri. Der behauptet, Sheeran hätte den „Oh I, Oh I, Oh I“-Teil seines Refrain seines Superhits „Shape of You“ von seinem 2015er Song „Oh Why“ geklaut. Bis zur Klärung des Falls werden rund 20 Millionen Pfund Tantiemen zurückgehalten. Es geht also um etwas.

Klingt „Shape of You“ nur zufällig wie ein anderer Song?

Wenn Sie beide Stücke kurz auf YouTube nachhören, werden Sie feststellen, dass die in Frage stehenden Passagen in der Tat nahezu identisch sind. Sheerans Verteidigung besteht schlicht darin, dass er Chokris Song nicht kannte, dass die Ähnlichkeit reiner Zufall ist. Weshalb er zwei so unterschiedliche Lieder wie „Feeling Good“ und „No Diggity“ anstimmte, die ebenfalls beide ähnliche Passagen enthalten.

Nun könnte man sagen: Ed Sheeran hat sicher genug Geld, Sami Chokri könnte es wohl ganz gut gebrauchen. Hört sich nicht fast alles, was Sheeran veröffentlicht, so an wie etwas, das schon andere vor ihm gesungen haben müssten? Das gilt freilich nicht nur für Ed Sheeran, sondern für die populäre Musik im Allgemeinen. Dazu ein Tweet von Keith Richards aus dem Jahr 2012: „Es gibt nur einen Song, und den haben Adam und Eva geschrieben. Alle anderen sind nur Variationen des Themas.“

Komponieren mit der Schere im Kopf

Ist ein Song ausreichend populär, meldet garantiert jemand Ansprüche an dessen Urheberschaft an. Jeder Top-Ten-Hit hat inzwischen sein eigenes Gerichtsverfahren, längst komponieren Popstars und ihre Songwriter-Teams mit der Schere im Kopf. Im Londoner Verfahren bekannte Sheeran, die fragliche Melodie noch einmal abgeändert zu haben, weil sie ihm zu nah an „No Diggity“ angelehnt erschien. Außerdem habe er den Autoren von TLCs „No Scrubs“ freiwillig einen Song-Credit zugestanden und einen Musikwissenschaftler damit beauftragt, nach weiteren Ähnlichkeiten zu suchen.

Als Paul McCartney mit der fertigen Melodie zu „Yesterday“ im Kopf aufwachte, hat er sie tagelang jedem Bekannten den er traf vorgesungen, weil er nicht glauben konnte, dass sie noch nicht existierte. Das erscheint im Vergleich zu den heutigen Vorsichtsmaßnahmen geradezu unschuldig, jedenfalls noch nicht weit entfernt von den paradiesischen Zuständen von Adam und Eva.

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Zu denen führt aber kein Weg zurück: Just ist auch Dua Lipa verklagt worden. Artikal Sound System, eine Reggae-Band aus Florida, findet, dass der Refrain von Dua Lipas 2020er Hit „Levitating“ exakt so klingt wie eine Passage aus ihrem 2017er Song „Live Your Live“. Rhythmus und Melodie sind in der Tat nahezu identisch. Aber das Gleiche gilt für „Live Your Live“ und Outkasts Hit „Rosa Parks“ von 1998. Und für „Rosa Parks“ und „Blame It on the Boogie“ (1978) von den Jackson 5. Und so weiter ad infinitum.

Wenn das so weitergeht, bekommen wir statt Popsongs bald nur noch Gerichtszeichnungen von Popsongs. Also: Lasst Ed Sheeran in Ruhe.