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Ein Rechtsphilosoph im Interview„Der Shutdown hat Opfer und wird viele weitere haben“

Lesezeit 7 Minuten

Erholung vom Corona-Stress im Stuttgarter Flughafen: Ein 1:1-Konzert – mit wohlbedachtem Abstand.

  1. Der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel bezieht in der von Wolfgang Schäuble angestoßenen Debatte über den Schutz des Lebens eine klare Position.
  2. Für Merkel hat die Freiheit im Zweifel Vorrang vor dem Lebensschutz, zumal auch der aktuelle Shutdown auf lange Sicht viele Leben kosten wird.
  3. Die deutsche Politik sieht er in einer Zwickmühle, in der es keine wirklich guten Lösungen gibt.

Herr Merkel, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat über die Schutzwürdigkeit des Lebens gesprochen und auf eine Abstufung hingewiesen. Dahinter steckt die Debatte über Lockdown und Lockerung. Wie bewerten Sie Schäubles Aussagen?

Ich würde mit Blick auf Herrn Schäubles Bemerkung zwei Bedeutungsebenen unterscheiden: eine Oberflächenbedeutung und eine tiefgründigere. In der Oberflächenbedeutung ist der Satz vollkommen richtig. In unserer Gesellschaft, unserer Politik, ja unserer Lebensform lautet die oberste Maxime keineswegs, Leben unbedingt zu schützen und Todesopfer um jeden Preis zu vermeiden. Das liegt auf der Hand. Jeder weiß, dass wir jedes Jahr 3000 Verkehrstote haben, darunter Hunderte unschuldiger Opfer. Betrunkene und Raser bringen ja nicht nur sich selber ums Leben. Wir wissen vor jedem Sommerwochenende statistisch recht genau, wie viele Tote am Montag zu beklagen sein werden. Gleichwohl bleibt der Autobahnverkehr auch an diesen Wochenenden erlaubt.

Und ist das richtig?

Ja. Hier geht es um ein akzeptiertes soziales Risiko. Das betrifft die gesamte Gesellschaft, die Fahrer auf den Autobahnen, deren Individualität man so wenig kennt wie die der potenziellen Opfer. Es gibt zahlreiche weitere Kontexte, in denen gefährliche Situationen zum Alltag gehören, aber den Freiheitsrechten der Bürger überantwortet bleiben. Wir haben über 100 000 Alkohol- und Rauchertote jedes Jahr. Unter der Maxime, das Leben sei unbedingt zu schützen, müssten solche Alltagsdrogen verboten werden.

Zur Person

Reinhard Merkel (Jahrgang 1950) ist emeritierter Hochschulprofessor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg. Er war Mitglied des Deutschen Ethikrates und hat für die Nationale Wissenschaftsakademie Leopoldina in einer Gruppe, bestehend aus 26 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, an einem Papier mit Empfehlungen für den Umgang mit der Pandemie mitgewirkt.

In einer solchen Gesellschaft würden wir ja auch nicht leben wollen.

Richtig. Zur Lebensform unserer Gesellschaft gehören erlaubte Risiken – und zwar um der Freiheit willen. Man darf Fallschirmspringen, in den Hochalpen klettern, Schwergewichtsboxen – alles der Selbstverfügung der Individuen anheimgegeben. Das meint Schäuble, und das ist so wahr wie trivial. Wenn in öffentlichen Diskussionen oder in den Medien gesagt wird, an alleroberster Stelle stehe der Schutz des Lebens, so ist das irreführend. Denn es stimmt so nicht.

Und wie sieht eine tiefgründigere Betrachtung aus?

Schäuble, der ein kluger Mann ist, dürfte zumindest intuitiv auch das Folgende im Sinn gehabt haben: Die Grenzen des gesellschaftlich erlaubten Risikos werden sich in Zukunft verschieben. Sie müssen im Sinne der Akzeptanz eines erhöhten allgemeinen Lebensrisikos neu bestimmt werden. Denn mit Corona und ähnlichen Pandemien, die wiederkommen werden, müssen wir leben lernen. Gewiss hat es gravierende Versäumnisse in der Politik gegeben, nicht nur bei uns. Und das kann man künftig ändern, obwohl es ja leider zur gängigen politischen Haltung gehört, Warnungen für eine nicht konkret absehbare Zukunft zu ignorieren. Wer aber heute sagt, wir dürfen erlaubte Risiken in epidemiologischen Krisen auch künftig nicht im höheren Maß zulassen als während der Coronazeit und müssen gegebenenfalls auch wieder einen Lockdown durchsetzen, der nimmt ein anderes soziales Risiko in Kauf, das inzwischen seinerseits die Dimension des Unerlaubten annimmt. Der ökonomische Shutdown hat Opfer und wird noch viele weitere haben. Nicht nur für irgendwelche gewinnorientierten Geschäftsleute, wie es gerne bagatellisiert wird. Sondern Opfer an Leib und Leben von Zehntausenden, global wohl Millionen Menschen.

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Könnten Sie das bitte genauer erklären?

Der Absturz der amerikanischen, chinesischen und europäischen Ökonomien wird global unzählige Opfer fordern. Deutschland wird es weniger treffen, aber auch hier werden solche Lockdown-Folgen künftig zum unerlaubten Risiko werden. Es ist Aufgabe der Politik, ein gesellschaftlich akzeptables Risikomaß auszutarieren. Kurz: wir werden mit kommenden Viruspandemien und vielleicht hohen Zahlen ihrer Opfer leben müssen, ohne sie mit Lockdowns blockieren zu können. Sie werden zu unserem Leben gehören wie die Grippeepidemien seit eh und je. Auf dieser kollektiven Ebene muss sich das Wechselspiel von erlaubten und unerlaubten Risiken zwischen Pandemie und Ökonomie einpendeln. Es geht bei den ökonomischen Kollateralschäden ja nicht um Profitinteressen von Geschäftemachern, sondern um den Lebensnerv dieser Gesellschaft. Das ist der Hintergrund von Schäubles Bemerkung. Und er ist ausgesprochen wichtig.

Wir wissen ja gar nicht, ob das wirtschaftliche Risiko so groß ist. Können wir ein so hohes Gut, also das Leben zu schützen, gerade im Nichtwissen in Bezug auf die Folgen, aufs Spiel setzen?

Gute Frage. Bleiben wir bei der zugespitzten Alternative: entweder Lockdown oder höhere Zahlen von Pandemieopfern. In beiderlei Hinsicht wissen wir in Wahrheit wenig. Daher die Rede von den Risiken, seien sie nun erlaubt oder unerlaubt. Die Politik muss über Formen und Ergebnisse dieser Abwägung entscheiden, und zwar erheblich offener als am Anfang der Corona-Krise. Virologen, Epidemiologen oder Ökonomen sind für solche politischen Entscheidungen weder geeignet noch legitimiert. Sicher, dieses Virus hat noch etwas Unheimliches, eine dunkle Rückseite. Die Meldungen über steigende und kaum erklärbare Todeszahlen bei Kindern, von denen viele mit dem Coronavirus infiziert sind, zeigen uns das. Diese unheimliche Rückseite so gut es geht aufzuklären, ist Sache der Wissenschaft. Aber auf der Grundlage solchen Wissens und des verbleibenden Nichtwissens zu entscheiden, ist allein die Zuständigkeit der Politik. Unsicherheiten, eine Art Bodenlosigkeit überall – ja, und zwar in einer Form, wie es das seit Bestehen der Bundesrepublik nicht gegeben hat. Jede der denkbaren Wahlmöglichkeiten ist deshalb riskant. Aber für diese Risiken des Entscheidens unter Bedingungen vielfachen Nichtwissens muss die Politik Verantwortung übernehmen.

Politik in der Zwickmühle

Es ist also eine Zwickmühle?

Ja. Man muss sich bei der Abwägung ökonomischer und pandemischer Folgen darüber klar sein, dass auf beiden Seiten die Risiken exorbitant sind. Vielleicht kommen wir mit den ökonomischen Kollateralschäden halbwegs glimpflich davon. Ich fürchte allerdings, dass sie erheblich größer sein werden als in der Finanzkrisenzeit. Die Amerikaner werden ganz anders abstürzen als damals, und die Chinesen auch. Das wird globale Erschütterungen und Verwerfungen nach sich ziehen.

Wie würde man das Leben des Einzelnen ansetzen?

Nehmen wir die Triage-Situationen, die wir mit einigem Horror in Italien, Frankreich und Spanien beobachtet haben. Drei Konstellationen kann man unterscheiden: In der ersten haben die Ärzte, sagen wir, fünf Patienten, die beatmet werden müssen, aber nur ein Beatmungsgerät. Wen sollen sie auswählen? Die Antwort des Rechts: Sie können wählen, wen sie wollen. Denn vor dem Recht sind alle fünf Leben gleich, egal, ob das die 35-jährige Mutter mit drei Kindern ist oder der 80-jährige Großvater. Das Recht mischt sich hier nicht mehr ein. Wer auch immer zur Rettung gewählt wird, gegenüber den anderen ist das keine strafbare Tötung durch Unterlassen. Die Ethik macht hier sehr wohl Vorgaben.

Nämlich welche?

Sie sagt etwa, es sei besser, die junge Mutter als den Großvater zu retten, der sein Leben schon gelebt hat. Aber das Recht darf hier nicht differenzieren. Der zweite Modellfall sieht so aus: Alle Beatmungsgeräte sind besetzt, jetzt kommt die junge Mutter, beatmungsbedürftig. Der Arzt sagt: Ich hänge den 80-Jährigen ab; das wird ihn töten, aber dafür rette ich die Mutter. Das geht nicht. Eine solche Differenzierung im Lebensschutz untersagt die Verfassung. Das dritte Modell, das im Elsass praktiziert worden ist: Die Ärzte haben noch ein Gerät frei. Sie sagen sich: Wenn ein 80-Jähriger kommt, hängen wir den gar nicht an, denn spätestens morgen haben wir den nächsten Jüngeren hier. Und der Alte erhält Sterbehilfe. Solche Entscheidungen hätten vielleicht auch uns drohen können. Das ist immer etwas keusch formuliert worden als »Überlastung des Gesundheitssystems«. Der eigentliche, tiefere Grund für die Lockdown-Maßnahmen war die Furcht vor solchen Triage-Entscheidungen. Das hält keine Gesellschaft und keine Rechtsordnung auf Dauer aus. Wir werden hoffentlich in dieser Coronakrise eine geringere Zahl an Mortalitätsopfern haben als in der letzten Grippeepidemie mit ihren 25 000 Toten. Aber die politische Entscheidung, eine hoffnungslose Überlastung der Intensivstationen zu vermeiden, war richtig. Triage-Situationen, in denen konkret identifizierten Menschen gesagt würde: Du musst leider sterben, weil der neben dir jünger ist und bessere Aussichten hat – das musste vermieden werden.