- Die Politik dürfe sich in der Corona-Krise nicht ausschließlich am Schutz des Lebens orientieren, fordert der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble.
- Der 77 Jahre alte Politiker, der selbst zur Hochrisikogruppe zählt, fürchtet, dass die Stimmung in der Gesellschaft bald kippen wird – damit ist er nicht alleine.
- Wenn wir ehrlich sind, galten das Recht auf Leben und der Schutz des Lebens auch schon vor der Corona-Krise nicht absolut, zumindest nicht für alle.
- Jetzt lesen mit KStA PLUS.
Köln – Die großen Fehler beginnen oft ganz klein – im Alltag unbemerkt, scheinbar folgenlos. „Hauptsache, gesund!“, sagen wir zu Geburtstagen oder vergleichbaren Anlässen. Aber schon da stimmt es so nicht. Es gibt so vieles im Leben, was auch noch wichtig ist. Und wenn in Hörweite des Jubilars jemand steht, der erkennbar krank ist, bleibt einem das fröhliche „Hauptsache, gesund!“ auch schon mal im Hals stecken.
Man kann die Corona-Krise als das XXL-Format dieser kleinen, im Grunde harmlosen Szenerie betrachten: Die Gesundheit der Menschen habe höchste Priorität, erklären die Regierenden im Bund und in den Ländern seit Wochen. In Armin Laschets griffig-pathetischer Formulierung: „Es geht um Leben und Tod, so einfach ist das.“
Der Schutz des Lebens steht nicht über allem
Und weil das einfach richtig zu sein schien, hat sich das Land in einen Ausnahmezustand ungekannten Ausmaßes versetzen lassen. Die schrecklichen Bilder aus anderen europäischen Ländern verstärkten die unhinterfragte Geltung der Maxime: Vorrang für den Schutz des Lebens – Hauptsache, gesund!
Jetzt hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) dahinter aber doch ein Fragezeichen gesetzt und – zugespitzt – gesagt: Der Schutz des Lebens steht nicht über allem. Gerade im Kontrast klingt das ungeheuerlich. Gleichwohl stimmt Schäubles Einwand, und zwar sowohl verfassungsrechtlich als auch lebenspraktisch.
Zwar ist das Leben insofern das fundamental schützenswerte Gut, weil alle anderen Grundwerte darauf aufbauen. Wer tot ist, dem nutzen Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten nichts. Aber das Recht auf Leben erschöpft sich nach unser aller Vorstellung auch nicht in der bloßen physischen Existenz. Wir verbinden mit dem Begriff Leben berechtigterweise mehr als täglich zwei Liter Trinkwasser, etwas zu essen, ein paar Kleidungsstücke und ein Dach über dem Kopf. Wobei es selbst daran unzähligen Menschen auf der Welt mangelt.
Der Staat schützt auch sonst nicht uneingeschränkt unser Leben
Wenn wir ehrlich sind, galten das Recht auf Leben und der Schutz des Lebens auch schon vor der Corona-Krise nicht absolut, zumindest nicht für alle. Der Staat, der seine Bürger jetzt vor dem Virus bewahren soll, verbietet sonst weder das Autofahren noch das Rauchen – Tätigkeiten mit erheblichen Lebensrisiken, aber natürlich auch von hohem praktischem Wert oder persönlichem Genuss. Ständig setzen wir das Leben in Beziehung zu anderen Gütern und wägen diese gegeneinander ab – wenn nicht individuell, so doch als Staatsvolk.
Das könnte Sie auch interessieren:
Die Ausstattung unseres Gesundheitswesens, die Anstrengungen zur Bewältigung der Pandemie und ihrer Folgen kann unser Land sich (noch) leisten, weil es wohlhabend und wirtschaftlich stark ist. Aber wir können nicht allen helfen, die in der gleichen Lage sind, selbst wenn wir es wollten. Und wir werden auch im eigenen Land an die Grenze der Hilfe stoßen, wenn der Lockdown auf unbestimmte Zeit anhält.
Wir müssen uns der Güterabwägung stellen
Auch deshalb hat Schäuble recht: Zum Schutz des Lebens können und dürfen nicht ohne jedes Maß andere Werte vernachlässigt, gefährdet oder gar vernichtet werden. Wir müssen uns der Güterabwägung stellen. Damit geben wir nicht etwa unsere Humanität und unsere Mitmenschlichkeit preis.
Im Gegenteil! In einer verwüsteten Wirtschafts-, Sozial- und Kulturlandschaft würde der Begriff der Menschenwürde schnell zur Leerformel und der Satz „Hauptsache, gesund!“ zum Hohn.