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Erfolgreichster Kino-Film aller ZeitenWarum das Marvel-Universum derart expandiert

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Szene aus „Endgame” mit Chris Hemsworth

  1. „Avengers: Endgame” hat „Avatar” vom Thron gestürzt und ist der erfolgreichste Kinofilm aller Zeiten.
  2. Was ist die Ursache für den Erfolg dieses Avenger-Films und des gesamten Marvel-Universums?
  3. Was zeichnet die Filme und Figuren aus? Geht es nur um Eskapismus – oder um viel viel mehr?
  4. Ein Deutungsversuch.

Sollte es ein Jenseits geben, und sollte – woran eigentlich kein Zweifel besteht – Stan Lee in den Himmel gekommen sein, dann werden dort am Sonntag die Sektkorken geknallt haben.

Der im vergangenen Jahr gestorbene Marvel-Autor und Filmproduzent hat die Flaschen vermutlich höchstpersönlich geöffnet, denn seit dem vergangenen Wochenende ist eines seiner Lieblingsprojekte der erfolgreichste Film aller Zeiten: „Avengers: Endgame“ hat „Avatar“ vom Thron gestürzt, James Camerons utopisches 3-D-Märchen, das über stolze zehn Jahre hinweg dort residiert hat. Beide Filme haben etwas gemeinsam. Sie sind ganz und gar Kino, wenn man darunter versteht, dass Kino seine Zuschauer in eine andere Welt entführt. Alles also nur eine Frage von Eskapismus?

Die Ursache für den Erfolg von Filmen wie „Avatar“ und „Avengers“ dürfte tiefer liegen, und sie können auch nicht einfach mit der Sehnsucht nach einer bunten und aufregenden Alternative zum Alltag erklärt werden. Tatsächlich spielen sich heute auf der Leinwand die großen Shakespeare-Dramen ab, und im Idealfall haben sie sehr viel mit unserer Welt und unserem Alltag zu tun: „Avatar“ verhandelt hochmoralisch ökologische Probleme und Fragen von Kolonialismus und Herrschaft. Und Stan Lee, der Marvel-Gott, der nun in seinem Himmel feiert, hatte ein Talent dafür, Superhelden zu erschaffen, die wirken wie Du und ich.

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Was ist der grüne und muskelstrotzende Hulk, wenn nicht ein Wutbürger, der endlich genauso aussieht wie er sich fühlt? Was ist mit den X-Men los – vermutlich Pubertät. Der Iron Man ist ein gebrochener Mann, dem selbst sein immenser Reichtum nicht beim Kampf gegen die inneren Dämonen hilft. Und die Fantastischen Vier sind eine reichlich dysfunktionale Familie: Nichts Menschliches ist diesen Figuren fremd, die zwar allesamt über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen, doch gerade die Superkräfte hüllen sie in eine Aura der Fremdheit und Andersartigkeit. Kein Wunder, dass die Avengers und X-Men besonders von einer Altersgruppe geschätzt und kultisch verehrt werden, die selbst die Wirren des Erwachsenwerdens durchlebt. Marvel-Comics und die daraus abgeleiteten Filme sind Abenteuer, Parabel und Therapie zugleich.

Natürlich geht es bei all dem stets ums große Ganze. Captain America musste in den 40er Jahren in die Propaganda-Schlacht gegen die Nazis eingreifen. Nachdem das aufkommende Fernsehen und das Wirtschaftswunder in der westlichen Welt die Attraktivität der Comics schmälerte, feierten Stan Lee und seine Koautoren in den 60er Jahren ihr großes Comeback, als die Welt in der Kuba-Krise vor einem Atomkrieg stand.

Die Rüstung hängt nach dem „Endgame“ erstmal am Nagel – aber nicht lange

Heute sind es der globale Klimawandel, die apokalyptischen Zustände in Syrien, gewaltige Migrationsbewegungen und der neuerliche Kalte Krieg, in denen sich die Avengers spiegeln. Dantes Inferno lodert auf der Leinwand, und es ist nichts anderes als eine Reflexion der Endzeitstimmung, die zumindest als Ahnung die Gesellschaften dieser Welt erfasst hat.

Wie begegnet man diesem Gefühl, welches Rezept könnte es geben, dem Untergang entgegenzutreten? Gerade das „Endgame“ der Avengers macht es dramatisch vor: durch Freundschaft und Solidarität. Es war vermutlich der genialste Schachzug von Marvel, die Superhelden nicht mehr einsame Kämpfe führen zu lassen, sondern sie zu einer Art Vollversammlung einzuberufen.

Star-Power ohne Ende

Mit der entsprechenden Star-Power. Konnte Zack Snyder einst stolz darauf sein, für „Batman und Superman“ Ben Affleck und Henry Cavill gemeinsam vor die Kamera zu bekommen, so dürften Anthony und Joe Russo darüber nur herzlich lachen: Für „Endgame“ holten sie von Gwyneth Paltrow über Michael Douglas bis hin zur bewährten Superhelden-Truppe um Robert Downey Jr., Scarlett Johansson, Chris Evans und nun auch Brie Larson das bestbezahlte Darstellerpersonal Hollywoods vor die Kamera, und selbst Kürzestauftritte reichten als Anreiz aus, damit sich die Schauspielelite um einen Einsatz bei den „Avengers“ riss.

Zum dramaturgischen Konzept, die Avengers als eine Mischung aus hochbegabter Söldnertruppe und mythenseligem Götter-Olymp zu präsentieren, gesellt sich mithin die Vermarktungsstrategie der Marvel-Studios unter dem Dach des Disney-Konzerns. Sie wird sich auch nach dem „Endgame“ fortsetzen, wie deren Chef Kevin Feige soeben auf der Messe Comic-Con ankündigte: Auch nach dem Ende der „Infinity Saga“ macht Scarlett Johansson als Black Widow weiter, Angelina Jolie folgt in „Eternals“, einem Epos, in dem Götter gegen Götter kämpfen, und, und, und ...

Die Maschine läuft auf Hochtouren weiter, und das Kino ist ihr nicht mehr genug. Marvel-Chef Feige verspricht neue Serien für den Streamingdienst Disney+, und auch mit Captain Marvel und den Fantastic Four gibt es ein Wiedersehen. Es ist also tatsächlich ein Universum, das Marvel immer weiter expandieren lässt. Und hier gilt nur ein Gesetz: Nach dem Endspiel ist vor dem nächsten Spiel.