Fiona Apples neues AlbumDas erste Meisterwerk der Corona-Ära
- Fiona Apple hat sich mit ihrem neuen Album acht Jahre lang Zeit gelassen — und es mitten im Lockdown veröffentlicht.
- Die Singer-Songwriterin hat „Fetch the Bolt Cutters“ fast komplett in ihrem Haus in Venice Beach eingespielt.
- Sie singt von übermächtigen Männern und komplizierten Frauen. Und davon, wie die Isolation zum Freiraum werden kann.
Venice Beach – Die radikale Entschleunigung, in der sich derzeit die meisten von uns üben müssen, hat Fiona Apple schon vor Jahren perfektioniert. Nachdem die in New York aufgewachsene Singer-Songwriterin Mitte der 1990er Jahre, noch minderjährig, vom Mahlstrom der Musikindustrie mitgerissen und als Schmerzensfrau von MTV Gnaden beinahe von diesem verschluckt wurde, übte sie sich in Rückzug, Schweigen und in der Kunst, die Dinge in ihrer eigenen Zeit zu erledigen. Und nicht gemäß den Verwertungszyklen von Plattenfirmen und Presse.
So hat Apple in 25 Jahren nur fünf Alben veröffentlicht, für das just erschienene „Fetch the Bolt Cutters“ hat sie sich sogar acht Jahre lang Zeit gelassen. Weshalb man sich zuerst einmal wundern sollte, warum die 42-Jährige nicht noch ein paar Monate länger gewartet hat, so wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen, die ihre Neuerscheinungen auf die unbestimmte Zeit nach der Pandemie verschoben haben.
Die Antwort darauf verrät bereits der erste Hördurchgang: „Fetch the Bolt Cutters“ scheppert, poltert, rasselt, rappelt, rumort und hallt wie keine zweite Aufnahme im erweiterten Pop-Kontext. „Shake, Rattle and Roll“, forderte einst Bill Haley (beziehungsweise Big Joe Turner vor ihm) — Fiona Apple löst das endlich ein. Sie klingt hier wie nichts und niemand zuvor. Einflüsse jenseits ihres eigenen Oeuvres muss man mit der Lupe suchen. Vielleicht „The Jungle Line“, das zweite Stück auf Joni Mitchells „The Hissing of Summer Lawns“? Oder Brigitte Fontaines Free Jazz, Weltmusik und Chanson vereinendes Experiment „Comme à la Radio“?
Fiona Apple hat das Album komplett in ihrem Haus am kalifornischen Strand von Venice Beach eingespielt mit Hilfe ihres iPhones und der GarageBand-App, mit wenigen Mitmusikern, einem hart wie eine Snare Drum angeschlagenen Klavier und jeder Menge selbstgebastelten Percussion-Instrumenten, unter anderem einer Kiste, in der die Knochen ihres toten Hundes klapperten. Seine Nachfolger — fünf Vierbeiner werden eigens in den Album-Credits erwähnt! — bellen gut hörbar an verschiedenen Stellen von „Fetch the Bolt Cutters“.
In einem so ausführlichen wie intimen Profil im „New Yorker“ kann man nachlesen, dass Apple ihr Haus am Meer in den vergangenen fünf Jahren fast nur zum morgendlichen Gassi-Gehen verlassen hat. Das einflussreiche Online-Musikmagazin „Pitchfork“ hat Apple gar zur „Königin der Selbst-Isolation“ gekrönt und für ihr Album zum ersten Mal seit zehn Jahren seine Höchstwertung vergeben.
„Hol den Bolzenschneider, ich bin hier schon viel zu lange drin“, verlangt Apple im Titelsong, und wir Eingesperrten möchten ihr sofort heftig kopfnickend beipflichten. Doch die Künstlerin fühlt sich offensichtlich ganz wohl in ihrem Rückzugsraum. Tatsächlich zitiert sie mit dem Refrain die Schauspielerin Gillian Anderson, die als Ermittlerin in der britischen Krimiserie „The Fall“ den erwähnten Bolzenschneider benötigt, um eine gefangene und misshandelte Frau zu befreien. Das Lied und eigentlich das gesamte Album handeln also davon, wie man sich aus missbräuchlichen Situationen befreit, genauer gesagt, wie Frau die diversen Ketten sprengt, die machtbewusste Männer ihr im Laufe ihres Lebens anzulegen versuchen.
Ob sie in „Under the Table“ ihrem Partner während einer Einladung zum Dinner glasklar zu verstehen gibt, dass sie nicht schweigen werde, egal wie oft er sie unter dem Tisch anstupst. Oder in „Rack of His“ die Gitarrensammlung eines (anderen?) Partners mit derjenigen seiner vergangenen Beziehungen vergleicht. Oder, besonders drastisch, in „For Her“ ihre Stimme zu einem fröhlichen „Good Morning“ – man denkt unweigerlich an die aufgekratzte Nummer aus „Singing in the Rain“ – vervielfältigt, nur um darauf die kaum zu ertragende Zeile „Du hast mich in demselben Bett vergewaltigt, in dem deine Tochter geboren wurde“ folgen zu lassen.
Beinahe genauso häufig aber verhandelt Apple ihr schwieriges Verhältnis zu anderen Frauen, von alten Schulkameradinnen zu den neuen Freundinnen abgelegter Liebhaber, „Fetch the Bolt Cutters“ ist selbstredend nicht einfach Klang gewordener MeToo-Protestzug. In seiner Klarheit fühlt es sich oft an, als koppelte sich Apple direkt an die Nervenbahnen ihrer Zuhörer. Aber das geschieht nie zu Lasten inhaltlicher Komplexität.
„Ein Zimmer für sich allein“ hat Virginia Woolf einst für künstlerisch tätige (und letztlich für alle) Frauen gefordert. Apple zeigt jetzt, wie das klingt, wenn dieses Zimmer zum Möglichkeitsraum wird. Wer ihr lange genug lauscht, glaubt anhand der unterschiedlichen Hallräume einen Grundriss ihrer Wohnung zeichnen zu können.