Bei der phil.cologne diskutierten Julia Shaw, Florian Schroeder und Gert Scobel über das Böse.
Gert Scobel und Julia Shaw bei der phil.cologneBrauchen wir das Böse?
Das Böse fasziniert uns. Die Geschichten der Menschen, die schreckliche Dinge tun, bieten Stoff für True-Crime-Podcasts, Nazi-Dokus und Serienmörder-Formate wie „Dahmer“. Doch was treibt Menschen zu diesen Dingen? Und taugt das Böse gar als Kategorie, um über uns nachzudenken? Die phil.cologne lud gleich zwei Gäste in das Comedia Theater ein, die zum Thema Bücher geschrieben haben: Die Rechtspsychologin Julia Shaw („Böse – die Psychologie unserer Abgründe“) und den Satiriker Florian Schroeder („Unter Wahnsinnigen: Warum wir das Böse brauchen“). Moderiert wurde der Abend von Gert Scobel.
Julia Shaw und Florian Schroeder bei der phil.cologne
Geht man nach der Bibel, fing das Übel an, als die Menschheit vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse naschte. Steckt das Böse also in uns? Schroeder erzählt, dass ihn diese Angst als Kind begleitete. Sein Vater sei nämlich Trickbetrüger und ein ziemlicher Narzisst gewesen, weswegen seine Mutter ihm früh einbläute, dass schon viel gewonnen sei, wenn er nicht so wird wie sein Vater. „Das war tatsächlich etwas, das ich sehr lange mit mir rumgetragen habe. Weil ich später immer die Angst hatte, dass ich auch so werde.“ Als würde das Böse über ihn kommen wie eine magische Hand.
Und auch Shaw hatte Angst vor dem Erbe ihres Vaters: Er sei paranoid-schizophren gewesen, seine Realitäten existierten gleichzeitig mit ihren. Sie habe Angst gehabt, selbst eine genetische Prädisposition für paranoide Schizophrenie zu haben. Ihr Interesse galt also der Innenwelt des Menschen und im nächsten Schritt dann dem, was sie zu ihren Taten führt.
Was führt uns zum Bösen?
Denn dass wir prinzipiell alle zu Bösem fähig sind, das zeigt sich laut Shaw in der Neurowissenschaft - auch wenn nicht alle gleich dazu veranlagt seien. Fehlende Empathie etwa oder eine starke Impulsivität seien innere Faktoren. Dazu kämen noch äußere Faktoren, die destabilisieren, etwa Drogen- oder Alkoholmissbrauch.
Doch könnte man dem Bösen nicht Herr werden, indem man böse Gedanken gar nicht erst zulässt? Für Shaw ist es sogar andersherum. Sie zitiert eine Studie, bei der Studentinnen gefragt wurden, ob sie schon einmal darüber fantasiert haben, einen Menschen umzubringen. Über die Hälfte der Leute hätten bejaht. Evolutionspsychologie erkläre sich das damit, dass so ein innerer Probelauf nützlich sei. „Wenn man in der Fantasie etwas ausleben kann, kann man auch die Konsequenzen dessen ausüben und dann entscheiden: Die möchte ich nicht.“
Dem pflichtet auch Schroeder bei. „Ich glaube, dass wir da im Moment auf einem Weg sind, der sehr konservativ und rückschrittlich ist.“ Er sieht es als Kennzeichen unserer Zeit, zu viel in Gut-Böse-Dichotomien zu denken oder ihren Derivaten wie „Freund und Feind“. „Und warum ziehen eigentlich ausgerechnet queere Menschen so massive Feinschaft auf sich, die im weitesten Sinne in der nonbinären Welt zu Hause sind? Weil es die maximale Verunsicherung für viele Menschen zu sein scheint, dass da etwas ist, was sich diesen scheinbar Sicherheit gebenden Begriffen entzieht.“
Gert Scobel wird zum Gegenpol der beiden Gäste
Gert Scobel geht im Verlauf seine Rolle als Moderator offensiver an, was die Diskussion belebt. Es kristallisiert sich heraus, dass beide Gäste die Kategorie des Bösen gar nicht hilfreich finden. Shaw meint: „Wir brauchen das Wort nicht, vor allem nicht in den Nachrichten. Was man eigentlich mit dem Wort Böse sagt, ist: Ich möchte diesen Menschen nicht verstehen.“ Shaw und Schroeder meinen beide, dass „das Böse“ in erster Linie herangezogen werde, um eben nicht nach Erklärungen zu suchen, sondern um das zu brandmarken, was man nicht versteht - und es zu dehumanisieren. Sie zeigen sich damit beide als geistige Nachfolger des Philosophen Michael Schmidt-Salomon.
Scobel stellt dann die naheliegende Frage: Was ist mit Hitler? Dem Holocaust? Ist das nicht Böse? Man könne das Böse ja durchaus verstehen, aber sich trotzdem klar dagegen positionieren. Hier kommen die Gäste ins „herumeiern“, wie Scobel feststellt, sie benennen zum Beispiel das NS-Regime als „furchtbar“, Hitler als den „schlimmsten Verbrecher der Menschheitsgeschichte“, was wie eine Ersatzkonstruktion wirkt. Schroeder argumentiert, dass auch in der Juristerei das Wort Böse nicht vorkomme, allerhöchstens in der Form von „böswillig“.
Diskussion zwischen Ethik und Moral
Das ganze mündet in einer flammenden Diskussion, die den Unterschied zwischen Moral und Ethik beleuchtet. Schroeder sagt: „Wenn es keine Moral mehr gibt, wird die Welt eine bessere sein. Denn egal welche Moral es gab: Sie war immer absolutistisch, sie war privatistisch, sie urteilte, verurteilte.“ Gerade heute würden wir in einer Zeit mit einem massiven Moralüberschuss leben. „Von Luhmann ist der schöne Satz: Moral ist immer an der Grenze zur Gewalt. Weil sie immer versucht willkürlich etwas zu setzen, was Menschen oder Gruppen ausschließt.“
Das Gut-Böse-Denken ermögliche den Mächtigsten zudem, keine Verantwortung zu übernehmen, sondern in einem moralischen Schulddiskurs zu bleiben, bei dem die Schuld immer beim anderen liege. „Schuld in einer ethischen Debatte wäre ja die Frage: Wer übernimmt wofür Verantwortung? Putin übernimmt keine Verantwortung, sondern sagt: Ich bin das Opfer des Westens. Leider musste ich dafür die Ukraine angreifen, blöd gelaufen. Und Sahra Wagenknecht glaubt die Scheiße und erzählt es weiter.“
Die verschiedenen Perspektiven der Diskussionsteilnehmer führen sie zu verschiedenen Ebenen. Scobel interessiert die theologische und philosophische Dimension des Themas, weil er mit dem Begriff arbeiten will, während Shaw und Schroeder wissen wollen, was für die Gesellschaft und dem politischen Diskurs nützlich ist. Am Ende des Abends blieb die Frage offen, warum der Begriff des Bösen sogar im Titel ihrer Bücher vorkommt - wenn ihn weder Julia Shaw noch Florian Schroeder überhaupt hilfreich finden.