Frau von Weizsäcker, am 19. November jährt sich zum zweiten Mal der Mord an Ihrem Bruder Fritz. Wie gehen Sie auf diesen Tag zu?
Beatrice von Weizsäcker: Es ist und bleibt furchtbar, unfassbar. Bis heute kann ich mir das Geschehene nicht richtig vorstellen. Der 19. November 2019 hat mein Leben und das Leben meiner Familie im Kern erschüttert. Es gibt ein Davor und ein Danach.
Für Sie war es schon der zweite Verlust eines Bruders.
Beatrice von Weizsäcker, geb. 1958, ist Publizistin und promovierte Juristin. Seit 2003 lebt sie als freie Autorin in München. Weizsäcker gehörte zwölf Jahre dem Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags und des Ökumenischen Kirchtags an. 2019 wurde ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Fritz durch den Messerangriff eines psychisch Kranken tödlich verletzt. 2020 trat Beatrice von Weizsäcker zur römisch-katholischen Kirche über. (jf)
Zuletzt erschien von ihr: Haltepunkte. Gott ist seltsam, und das ist gut. Mit Norbert Roth, Herder-Verlag Freiburg, 272 Seiten, 22 Euro.
Ja, aber es war doch anders. Da mein Bruder Andreas in München lebte, konnten seine Frau und ich ihn begleiten. Er hatte Krebs, und von der Entdeckung des Rezidivs bis zu seinem Tod im Juni 2008 vergingen acht Monate. Da hat man Zeit, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Bei Fritz war das nicht möglich. Nachdem ich von der Tat erfahren hatte, hatte ich lange das Gefühl, etwas gehört zu haben, was gar nicht zu mir gehört. Zunächst habe einfach „funktioniert“, erstaunlich gut sogar. Aber natürlich habe ich mich auch immer wieder gefragt: Was mache ich da gerade? Um wen geht es eigentlich?
Im Mordprozess haben Sie erfahren, dass der Täter eigentlich Sie umbringen wollte – als Präsidiumsmitglied des Evangelischen Kirchentags. Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Es hat mich erst erschreckt, dann aber erstaunlich kalt gelassen. Weil es mich ja nicht getroffen hat. Später habe ich mich allerdings oft gefragt, warum Fritz und nicht ich?
Wie haben die Geschehnisse ihre Entscheidung beeinflusst, von der evangelischen Kirche zur katholischen überzutreten?
Nach dem Tod meines Bruders Andreas war ich verzweifelt und wütend, aufs Leben und auf Gott. Ich wollte mit ihm nichts mehr zu tun haben. Nach dem Mord in Berlin war das nicht so. Vielleicht liegt es daran, dass meine Not so groß war. Ich war eine Suchende. Und dadurch offener. Schon vor Berlin hatte ich überlegt, katholisch zu werden. Am Tag nach der Tat, es war ein Mittwoch, ist mein geistlicher Begleiter mit mir in unsere Kirche Christkönig in Nymphenburg gegangen. Wir setzten uns ganz vorne hin, er zündete eine Kerze an, die er eigens mitgebracht hatte. Die habe ich übrigens immer noch. Dann beteten wir die Psalmen 22 und 23: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bleibst fern meiner Rettung, den Worten meines Schreiens?“ – „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen.“ Sonst passierte nicht viel. Wir saßen einfach in der Kirche, ich war in Tränen, und er betete, und die Kerze brannte. Das werde ich nie vergessen. Das fiel bei mir auf einen Boden, der das brauchte.
Inwiefern war das auch ein konfessioneller Boden?
Konfessionell insofern, als es etwas war, was ich an der katholischen Kirche mag: die Innerlichkeit, die Wärme, die Sinnlichkeit. Kerzen, Weihrauch, das Knien beim Beten, die Liturgie, der Ritus der Messe, der einem überall auf der Welt ein Gefühl von Zuhause gibt, ein Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Das alles könnten Sie jetzt negativ wenden – als Aufzählung dessen, was mir in der evangelischen Kirche gefehlt hat. Aber meine Konversion war keine Entscheidung gegen etwas, sondern für etwas. Eine Entscheidung, an der mehr beteiligt war als der Kopf.
Aber Sie sind doch ein Kopfmensch. „Logikerin“, nennen Sie sich selbst gern.
Das stimmt, und das ist ja auch nichts Schlechtes. Aber seit dem Tod meines Bruders Fritz habe ich aufgehört, unablässig nach dem Warum zu fragen.
Die Frage nach dem Warum bezeichnen Theologen als „Theodizee“: Warum lässt Gott das zu? Nun gibt es doch für einen Mord – anders als für eine Krankheit – einen ziemlich eindeutigen Verantwortlichen: den Mörder.
Und man könnte natürlich weiterfragen, warum Gott ihn nicht an seiner Tat gehindert hat. Für mich ist dieser Mord so … so absurd, dass mir der Gedanke, Gott könnte irgendetwas damit zu tun haben, völlig fern liegt – „a Schmarrn“, wie wir in Bayern sagen.
Warum?
Ich glaube nicht, dass Gott die Geschicke unseres Lebens lenkt, so dass ich für alles Gute „vielen Dank!“ sagen kann und bei allem Schlechten Gott fragen kann, ob er noch alle Tassen im Schrank hat. So funktioniert das nicht.
Wie funktioniert es dann?
Was immer geschieht, es ist meine Verantwortung, wie ich damit umgehe. Diese Verantwortung kann ich nicht wie ein Kind auf die Eltern abwälzen, also auf Gott. Es ist seltsam: Aus der brutalen Tat in Berlin zog ich Kraft, für andere da zu sein – für die Familie, meine und die meines Bruders. Das ist so viel wichtiger als das Kreisen um sich selbst. Und noch seltsamer: Ich empfing daraus selbst wieder Kraft. Es war wie ein positiver Sog, der mich nach oben zog statt nach unten.
In Ihrem neuen Buch stellen Sie fest: Gott ist seltsam. Woher wissen Sie das?
Ich mag das Wort seltsam. Es changiert zwischen eigenartig, merkwürdig, unverständlich, nicht greifbar, erstaunlich, überraschend, faszinierend, wundersam, geheimnisvoll. Und all das ist Gott für mich – mit all den Fragen, die sich mir in meinem Leben stellen, aber auch den Fügungen, die ich in der Rückschau immer wieder wahrnehme und bei denen ich mir sage: Es passt seltsam gut, so wie es geworden ist.
Fügungen, sagen Sie. Dann hat Gott ja doch seine Hand im Spiel.
Nein. Das ist ja das Seltsame an Gott. Ich glaube, ich bekomme zur Verantwortung für meinen Lebensweg Wegzehrungen von Gott: die leibliche Wegzehrung in der Kommunion, die geistliche Wegzehrung mit den Worten der Bibel, die sinnliche, insbesondere in Form von Musik. All das kommt nicht von mir, es kommt mir von außen zu.
Sie verbreiten so eine irritierende Gewissheit. Als ob nichts Ihren Glauben erschüttern könnte.
Den Gläubigen möchte ich sehen, der das von sich behaupten könnte. Natürlich sage auch ich manchmal: „Kannst du dich vielleicht mal hier unten zeigen, du da oben!“
Dabei behaupten Sie doch sogar, Sie seien Jesus begegnet. Wie war das denn?
Das ist schwer zu beschreiben. Am stärksten war das Erlebnis auf einer Israel-Reise des Bayerischen Pilgerbüros zu den Wirkungsstätten Jesu. Es war in der Zeit, als ich überlegte, katholisch zu werden. Wir fuhren mit einem Boot hinaus auf den See Genezareth und hörten dazu die passenden Bibelstellen vom Fischfang der Jünger oder vom Seesturm. Sie mögen das Autosuggestion nennen, aber für mich war es eine intensive Erfahrung von Gegenwart: Hier war Jesus seinerzeit gewesen, und hier war er auch jetzt. Das war irre!
Aber Sie sind nicht aus dem Boot geklettert und haben versucht, übers Wasser zu gehen?
Wie Petrus? Nein, der wäre damals in seiner Kleingläubigkeit ja auch beinahe untergegangen, wenn Jesus ihm nicht die Hand hingestreckt und ihn herausgezogen hätte.
Irritierend, um das Wort zu wiederholen, ist für viele sicher auch Ihr Eintritt ausgerechnet in die katholische Kirche. Macht es Ihnen nichts aus, dass Frauen in der katholischen Kirche nicht gleichberechtigt sind, dass homosexuelle Partnerschaften als sündhaft gelten und nicht gesegnet werden dürfen?
Ich finde das natürlich alles falsch. Völlig klar. Frauen ungleich zu behandeln und gleichgeschlechtlichen Paaren den Segen zu verweigern – das geht ja auch gegen mich und meine Lebensform.
Aber das ist die Kirche, der Sie sich angeschlossen haben. Andere treten deswegen aus.
Das ist Kirchenpolitik. Da geht es um Fragen von Herrschaft, Autorität und Macht. Mich stört das, mich ärgert das auch. Aber es berührt nur den Kopf, den Intellekt. Es erreicht nicht mein Herz und dringt nicht in meinen Glauben ein. Mein Katholischsein hängt nicht davon ab, was der Vatikan über Frauen und über Homosexualität sagt. Ich kenne viele Leute in der Kirche, die das ändern wollen, weil sie Dinge ganz anders sehen und handhaben, auch viele Priester. Außerdem gibt da ja auch noch ganz andere drängende Probleme – etwa die sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche.
Eben. Es gibt Theologen, die sagen, der Skandal des Missbrauchs greift den Glauben an…
Ich bin keine Theologin. In der Liga kann ich nicht mitspielen. Soweit der Missbrauch mit kirchlichen Strukturen zusammenhängt, müssen die Strukturen geändert werden, logisch. Und ich kenne auch viele Katholikinnen und Katholiken mit starkem Reformwillen.
Verspüren Sie bei sich auch diesen Impuls – oder ein Gefühl der Solidarität mit denen, die Ihre Kirche verändern wollen?
Das Gefühl der Solidarität schon, den Impuls, selbst etwas verändern zu wollen, im Moment nicht. Ich bin ja nicht aus kirchenpolitischen Gründen katholisch geworden. Ich unterscheide zwischen Priestern, die Verbrechen an Kindern verübt haben, und dem Glauben. Und die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen ist Gott sei Dank viel größer als die Zahl derer, die Kindern und Jugendlichen Gewalt antun. Für dieses Versagen nehme ich ja auch nicht Sie oder meine katholischen Freunde in Haftung.
Die Täter sind aber Vertreter der Institution, Verkündiger des Glaubens.
Ich würde sagen, sie sind „nur“ Verkündiger. Gott ist größer als jeder Verkündiger des Glaubens.
Vor „Gott ist größer“ versagt jedes Argument. Damit wird der Satz aber auch zur denkbar stärksten Stabilisierung von Missständen und falschen Strukturen.
Das haben Sie recht. Ich sollte es darum anders formulieren: Für meine Zugehörigkeit zur katholischen Kirche ist Gott wichtiger als die kirchenpolitischen Fragen, mit denen sich meine Kirche ins Abseits stellt. Wenn ich etwas ändern könnte, würde ich es vielleicht doch versuchen. Und wer weiß, was da noch kommt.