Köln – Ob die Einladung der documenta an eine Künstlergruppe diskutiert wird, die der Israel-Boycott-Bewegung BDS nahestehen soll, oder ob es um die Äußerungen des russischen Außenministers Lawrow, der den jüdischen Präsidenten der Ukraine, Selensky, mit Hitler in Verbindung bringt - oder ob es fast schon alltäglich gewordene Dinge betrifft wie die Tatsache, dass das Wort Jude auf deutschen Schulhöfen als Schimpfwort gilt: auch im 21. Jahrhundert prägt Antisemitismus die Vorstellungs- und Gefühlswelt vieler Zeitgenossen, und er löst Debatten aus. Peter Longerich, Autor des Buches "Antisemitismus. Eine Deutsche Geschichte", befasst sich damit aus historischer Perspektive. Im Rahmen der "Woche der Brüderlichkeit", veranstaltet von der Kölner Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, hält er einen Vortrag.
Herr Professor Longerich, was steht im Mittelpunkt Ihres Kölner Vortrags?
Longerich: Mein Buch „Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte“ entstand unter anderem im Kontext meiner Mitwirkung bei einem Beratergremium des Deutschen Bundestags. In dieser Funktion bin ich auch mit dem aktuellen Antisemitismus in Kontakt gekommen und darüber hinaus mit Fragen der Prävention. Meine These besteht darin, dass bei der Diskussion um Antisemitismus stets die Frage zu kurz kommt, warum es ihn gibt. Vor allem wird übersehen, wie tief der Antisemitismus in unserer Geschichte und Kultur verwurzelt ist.
In den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten war der Judenhass eng verknüpft mit der Frage nach der deutschen Identität. „Der Jude“ erscheint als Gegentypus, in dem sich aus der Sicht der Antisemiten all das verdichtet, was der Deutsche nicht sein will – also ein durch und durch negatives Bild, ein Gegenbild zum angestrebten Deutschsein, auch wenn viele gar nicht wussten, wie dieses Deutschsein mit Leben zu erfüllen war.
Auch ein solches Negativbild setzt eine Tradition voraus.
Es gibt eine uralte christliche Judenfeindschaft, und der säkulare, der moderne Antisemitismus, mit dem ich mich beschäftige, der Antisemitismus seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts, seitdem die Frage im Raum stand, ob und wie die Juden gleichberechtigte Bürger werden sollten, er steht in der Tradition des christlichen Antisemitismus und ist ohne ihn gar nicht zu denken. Ich habe mich aber auf die vergangenen zweieinhalb Jahrhunderte konzentriert, um meinem Buch einen klaren Fokus zu geben: Die Frage nach unserer nationalen Identität ist ja auch heute noch von Bedeutung, während der christliche Judenhass an Gewicht verloren hat.
Bleiben wir beim Judenhass aus nationalen Gründen – inwiefern ist dieser heute virulent?
Wir leben im Zeitalter des sogenannten Post-Holocaust-Antisemitismus, was bedeutet, dass viele Menschen glauben, sie seien durch die Verbrechen der Nationalsozialisten daran gehindert, ein unbeschwertes und unbefangenes Deutschsein auszuleben – viele machen für die permanente Erinnerung an den Holocaust nach wie vor die Juden verantwortlich, also die Opfer der NS-Politik. Eine klassische Schuldumkehr …
… nach dem Motto: Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.
Dieser Satz bringt es auf den Punkt. Aus diesem Motiv speist sich auch eine spezielle und extreme Form der Israelfeindschaft, auch hier geht es um den Versuch einer Aufrechnung. Natürlich ist es möglich, Antisemitismus und Kritik an Israel voneinander zu trennen, aber in vielen Fällen fließt beides ineinander.
Stellt der Nationalsozialismus mit Blick auf den Antisemitismus seit dem 18. Jahrhundert eine kontinuierliche Entwicklung dar, oder einen Bruch?
Beides. Die politische Bewegung, welche die Emanzipation der Juden wieder rückgängig machen wollte, kam seit ihren Anfängen in den 1870er Jahren 1933 zu ihrem so lange vorbereiteten Erfolg. Sie kam an die Macht und setzte ihre antisemitischen Maßnahmen durch. Das Neue ist also, dass die alten antisemitischen Forderungen nun durch den Staat umgesetzt wurden. Wenn der Antisemitismus Staatsdoktrin wird, erhält er aber eine eigene, unkontrollierbare Dynamik. Mit der Entwicklung hin zu Expansion und Krieg endete diese Dynamik in Völkermord. Das lässt sich aber nicht ohne weiteres aus der Kontinuität der antisemitischen Bewegung ableiten, sondern entscheidend ist die Zäsur 1933
Shulamit Volkov spricht vom Antisemitismus als von einem „kulturellen Code“. Antisemiten müssen ihren Judenhass gar nicht explizit formulieren und wissen doch, dass sie ihn untereinander teilen. Stimmen Sie dem zu?
Das ist eine geniale Formel für dieses Phänomen antisemitischer Verständigung, ohne Juden überhaupt beim Namen zu nennen. Sie hat diese Formel für das Kaiserreich geprägt, aber es gab nicht allein diese Form der Kommunikation, die sich mithilfe der „Judenfrage“ über ihre erzkonservativen politischen Vorstellungen verständigen wollte, sondern es gab auch die Bestrebung, die Emanzipation tatsächlich rückgängig zu machen. Insofern erfasst der kulturelle Code einen Teil des Phänomens Antisemitismus.
Sie haben bereits ihre Beratertätigkeit für den Bundestag erwähnt. Worum handelte es sich?
Es hat, ausgehend von einem Beschluss des Bundestages, einen zwölfjährigen Beratungs- und Diskussionsprozess gegeben, bis die Vorschläge von Fachleuten wie Sozialwissenschaftlern und Historikern 2020 Eingang fanden, zum Teil wenigstens, in eine ausführliche Stellungnahme der Bundesregierung. In der Praxis zeigt sich eben, dass die Durchsetzung des immer wieder erklärten zentralen Staatsziels, den Antisemitismus zu bekämpfen, langwierig und mühselig ist.
Woran liegt das?
Es gibt meiner Ansicht nach kein verbreitetes Empfinden in der Gesellschaft, dass Antisemitismus tatsächlich ein großes Problem sei und somit auch keinen kontinuierlichen politischen Problemdruck erzeugt. Erst Anschläge oder hohe negative Umfragewerte führen zu öffentlichen Diskussionen und Stellungnahmen – dann ist das Erschrecken groß, aber alsbald legt sich die Aufregung wieder. Vielleicht erschreckt man sich aber in erster Linie deshalb, weil man das Ansehen Deutschlands gefährdet sieht.
Würden Sie denen zustimmen, die sagen, dass antisemitische Positionen sich in den vergangenen Jahren häufen, dass sie sogar in der Mitte der Gesellschaft, was immer das sein soll, angekommen sind?
Sie waren schon immer in der Mitte der Gesellschaft. Das ist überhaupt nichts Neues, insofern ist diese Behauptung historisch nicht informiert. Und ob sie sich häufen? Es gibt ja verschiedene Möglichkeiten, Antisemitismus zu messen, angefangen bei der Kriminalstatistik über Umfragen bis hin zur Medienbeobachtung. Doch seit Jahrzehnten gibt es zum Beispiel keine große sozialwissenschaftlich gestützte Umfrage zum Thema – wir wissen im Grunde zu wenig über den aktuellen Antisemitismus.
Zur Veranstaltung
Peter Longerich hält am 17. Mai um 18 Uhr einen Vortrag zum Thema "Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte". Kartäuserkirche, Kartäusergasse 7, 50678 Köln; Eintritt 5 Euro. Anmeldung unter der Telefonnummer 0221-3382 225 oder per Email an anmeldung@koelnische-gesellschaft.de erbeten.
Der Historiker, geboren 1955, lehrte als Professor für moderne Geschichte am Royal Holloway College der Universität London und war Gründer des dortigen Holocaust Research Centre. Von 2013 bis 2018 war er an der Universität der Bundeswehr in München tätig. Er war einer der beiden Sprecher des ersten unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestags und Mitautor der Konzeption des Münchner NS-Dokumentationszentrums. Seine Bücher über die "Politik der Vernichtung" (1998) und ihre Resonanz in der deutschen Bevölkerung, "Davon haben wir nichts gewusst!" (2006), sind Standardwerke.
Sonntag, 15. Mai, veranstaltet die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit um 15 Uhr ein Konzert mit Chormusik jüdischer Komponisten des 19. Jahrhunderts. Kirche Groß St. Martin, An Groß St. Martin, 50667 Köln. Eintritt 10 Euro.