Interview mit AnnenMayKantereit„Nicht nur junge Leute sind Superspreader”
Überraschend fast über Nacht hat die Kölner Band AnnenMayKantereit ein neues Album namens „12” veröffentlicht. Darin liefert die Band einen überraschend düsteren Soundtrack zur Corona-Krise. Christopher Annen im Interview über das neue Album „12” und die Folgen der Pandemie auf die Band und Leute ihrer Generation.
Christopher Annen, Sie haben „12“, das dritte Album von AnnenMayKantereit, ohne Vorankündigung über Nacht veröffentlicht. Aber auch der Inhalt war ja eine Überraschung.
Ja, das Album ist ein bisschen anders, als die davor. Nicht nur in den Texten, auch vom Sound her. Das ist auf jeden Fall von diesem Jahr inspiriert.
Die Pandemie hat das kreative Arbeiten ja nicht einfacher gemacht. Wie haben sie sich überhaupt zusammengerauft?
Wir waren ja im März noch auf Tour. Die letzten fünf Shows mussten wir absagen. Dann ist erst einmal jeder nach Hause gefahren und erst da haben wir realisiert, dass das alles etwas länger dauern wird, das wir nicht im Mai wieder Konzerte spielen werden. Also haben wir uns gedacht: Was ist die andere Tätigkeit von Musikern neben dem Auftreten? Dann schreiben wir jetzt eben einfach neue Musik. Es ist sehr schnell viel Neues entstanden und auch die Idee, daraus ein Album zu machen, hat sich schnell herauskristallisiert.
Wodurch das Album etwas von einem Zeitzeugen-Dokument bekommen hat.
Auf jeden Fall. Die Songs sind alle zwischen März und Mai entstanden, weshalb die Texte sehr nah an der Zeit sind. Außerdem haben wir uns dazu entschieden, mit den Möglichkeiten, die man inzwischen zu Hause hat, Sachen spontan aufzunehmen, die Momente, in denen die Dinge entstanden sind, festzuhalten und gar nicht erst zu versuchen, das alles in einem fetten Studio neu aufzunehmen. Sicher könnte ich ein Gitarrensolo, wenn ich es ein halbe Jahr übe, noch ein bisschen besser spielen, aber es sollte aus dem Moment kommen.
Sie leben inzwischen in verschiedenen Städten, wie lief da die Kommunikation innerhalb der Band? Hat sich der kreative Prozess verändert?
Der war ganz anders. Tatsächlich nicht so schwierig, wie ich gedacht hatte. Jeder von uns hat sich sein kleines Heimstudio aufgebaut und dann haben wir uns die einzelnen Spuren hin- und hergeschickt. Severin und ich können inzwischen auch ein bisschen aufnehmen. Mit dem vorproduziertem Album sind wir zu unserem Produzenten Markus Ganter und der hat das schick gemacht.
Und der kreative Funke sprang der auch mittels Videokonferenzen über?
Es gibt schon ganz viel Kommunikation, die Videokonferenzen nicht ersetzen können. Aber gleichzeitig fand ich es auch ganz spannend, so zu arbeiten. Dass ich mir nicht vor den anderen im Studio ein Gitarrensolo ausdenken muss, sondern in Ruhe allein zu Hause herumprobieren kann.
Es sind ja in den vergangenen Monaten einige Alben herausgekommen, die irgendwie auf die Pandemie reagieren, vom Rückzug in die Innerlichkeit bis zur Flucht in die Disco. Aber sie konfrontieren die Krise direkt. Hatten sie keine Scheu vor negativen Gefühlen?
Nein, diese Zweifel und Sorgen, die viele gerade haben, direkt anzusprechen, das hat Henning in seinen Texten superstark gemacht, finde ich. Wir teilen diese Zweifel und Sorgen. Obwohl man sagen muss, dass wir in einer total privilegierten Position sind, wir haben keine Existenzängste, wie viele andere. Aber es bleibt genug Negatives, das uns gerade beschäftigt. Und das wollten wir auch abbilden.
Zum Beispiel die Ahnung, von der Sie singen, dass es nie mehr so sein wird, wie es einmal war?
Ich glaube nicht, dass viel Neues durch Corona entstanden ist, aber es verändert ganz viele Sachen, auch über einen längeren Zeitraum. Wir werden, zum Beispiel, wahrscheinlich auch nächstes Jahr noch nicht wieder vor 15.000 Leuten in einem geschlossenen Raum spielen können.
Nun feiern manche junge Menschen heimlich in geschlossenen Räumen...
Ich kann das irgendwo auch verstehen, dass man denkt: „Hey, ich bin jung, habe gerade Abi gemacht und will mein Leben so leben, wie das alle Generationen vor mir gemacht haben.“ Aber das ist gerade einfach nicht möglich und das hat halt etwas mit Solidarität zu tun und mit Verantwortung. Darauf, dass sich ältere Menschen nicht anstecken, hat man nun mal als junger Mensch einen direkten Einfluss. Übrigens glaube ich nicht, dass nur junge Leute die Superspreader sind, das zieht sich durch alle Generationen. Wir können Corona nur als gesamte Gesellschaft besiegen.
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Das Album beginnt nachtschwarz, später wird es verhalten fröhlicher. Wie würde „12“ enden, wenn Sie bis heute weitergeschrieben hätten?
Gute Frage, ich kann es wirklich nicht sagen. Aber tatsächlich hört das Album ja mit „Das Gefühl“ und „Die letzte Ballade“ auch wieder ein bisschen düsterer auf. Das passt schon sehr gut.
Unter anderem singt Henning May nostalgisch: „Weißt du noch, wie es ist, wenn Tausend Stimmen singen?“ Sind AnnenMayKantereit nicht insofern durchaus stark betroffen, als Sie von jeher eine Live-Band waren?
Da kommen wir ja auch her, vom live spielen. Das hat uns durchaus ziemlich hart getroffen. Wir hätten in diesem Jahr zum ersten Mal in Russland live gespielt, in der Ukraine und in Istanbul. Das ist richtig traurig.
Haben Sie darüber nachgedacht, wie es wäre, die neuen Lieder zu spielen, wenn das dann irgendwann mal wieder möglich ist? Die eignen sich ja weniger dazu, von Tausend Stimmen mitgesungen zu werden?
Wir müssen ja auch nicht alle Songs spielen, aber das wird auf jeden Fall eine Herausforderung.
Mir ist durch das Corona-Jahr aufgefallen, wie viel Kultur mit dem sozialen Leben zu tun hat und wie sehr das fehlt.
Ich finde auch, dass man gerade jetzt merkt, das Kultur nicht das Sahnehäubchen auf der Torte ist, sondern das Rückgrat einer Gesellschaft. Kultur sorgt dafür, dass sich Leute treffen und austauschen können. Und das ist doch grundlegend. Ich glaube, man kann noch gar nicht abschätzen, was das mit Leuten macht. Ich kann verstehen, dass Politikerinnen und Politiker im Moment vor allem das Infektionsgeschehen niedrig halten müssen. Das ist ihr Job. Und viele machen da einen großartigen Job. Aber gleichzeitig finde ich es krass, dass es noch nicht einmal eine Debatte darüber gibt, ob Kultur systemrelevant ist. Menschen, die mit Musik ihren Lebensunterhalt bestreiten, verletzt es, wenn ihnen gesagt wird, dass das doch eher so ein Hobby sei, so ein bisschen Selbstverwirklichung, jedenfalls kein richtiger Beruf. Das finde ich echt kacke. Und ich kenne viele in der Kulturszene, die durch das Raster der Hilfsgelder gefallen sind.
Das Gespräch führte Christian Bos