In unserer Reihe „Was mach’ ich hier eigentlich?“ gehen unsere Kultur-Kritiker dorthin, wo es sie auf Anhieb nicht hinziehen würde, und werfen einen neugierigen Blick auf eine für sie fremde Welt.
17.000 Fans besuchten am Samstagabend das Konzert der Kölner Durchstarter AnnenMayKantereit am Fühlinger See.
Unter Ihnen auch unser Chefkorrespondent Joachim Frank. Von „Henning-Sehen“ über Stimmband-Druck und einen Peter Brings, der Seite an Seite mit Henning May alt aussieht, erlebt er einiges an diesem Abend. Hat die Band einen Fan mehr?
Köln – AnnenMayKantereit am Fühlinger See! Wie geil ist das denn?! Meine Tochter, fünfzehneinhalb, ist hin und weg, dass es in letzter Minute noch klappt mit einer Karte für den Saisonabschluss der Kölner Band. Sie findet es verzeihlich, dass Papa auch mitgehen wird, um darüber zu schreiben. Mit fünf Freundinnen, alle im gleichen Alter, radeln wir die Neusser Landstraße stadtauswärts. „Ihr seht festival-mäßig aus“, lobt Maxima. Ich schaue zweifelnd an mir herunter. „Na ja, schön bunte Klamotten halt.“ Die Mädchen legen Glitter und Lipgloss auf. Nach ganz vorn vor die Bühne wollen sie. „Henning sehen“, den Leadsänger der vierköpfigen Formation. „Leute, ich freu mich so!“, ruft Luzi und hakt sich bei mir unter. Spricht für einen gelungenen Abend, sage ich mir, auch wenn ich ihn unter normalen Bedingungen wohl anders verbracht hätte.
„Bin echt neidisch!“
„Kannst dich wirklich freuen“, hat eine Kollegin gemeint, auf deren Musikgeschmack ich etwas gebe. – „Du gehst zu AnnenMayKantereit? Bin echt neidisch!“, simst eine Bekannte, Universitätsprofessorin ihres Zeichens. Was hat das alles nur zu bedeuten? Wann immer meine Tochter AnnenMayKantereit von der Playlist auf dem Handy im Auto spielte oder Erfolgstitel wie „Pocahontas“, „Jenny Jenny“, „Ich geh heut nicht mehr tanzen“ oder eben „Marie“ im Radio liefen, war bei mir Wundern angesagt über dieses kehlige Röhren von Henning May, den maximalen Druck auf den Stimmbändern – und diese ständigen Text-Bauchlandungen in Tränen-Seen aus Weltschmerz und Selbstkasteiung. Die neuesten Leiden des jungen M.
Luzi und ihre Freundinnen sehen das komplett anders „Die Texte kann man leicht verstehen“, erklärt mir Merit. „Lieder zum Mitsingen“, ergänzt Klara. Wie sich ausgerechnet das Wort „entspannt“ in die Beschreibung verirrt, ist mir schleierhaft. Egal. Nun also der Abgleich mit der Wirklichkeit. Als die Band um kurz vor neun die Festival-Bühne betritt, liegen fast fünf Stunden Programm und vier Vorgruppen – allesamt als „Freunde“ apostrophiert – hinter mir. Zum Glück ist der Spätsommertag sonnig und warm. Fast zu warm: Ein Wasser im Festival-Becher kostet 6,50 Euro. Kein Freundschaftspreis. Aber auch das ist anscheinend egal.
Die Jungs von AnnenMayKantereit, die vor ein paar Jahren als Schüler des Schiller-Gymnasiums in Sülz mit Straßenmusik begonnen haben, werden von 17.000 Fans gefeiert wie große Stars. Aber warum eigentlich „wie“? Die junge Frau neben mir kreischt unversehens so laut, dass die Dezibelspitzen aus den vier einschüchternden Boxenbatterien dagegen wirken wie Zimmerlautstärke. Mir schießt eine Textzeile der Frankfurter Liedermacherin Eva Beyer durch den Kopf: „Erhöhtes Aufkommen an schrägem Volk...“ Aber nein! Das ist gemein und selbstgerecht. Ausgelassenheit nach dem musikalischen Genre sortieren? Wie arrogant! Der Schräge hier bin ich: der Einzige, der nicht jede Textzeile mitsingen kann („Ich bin total heiser“, schreit mir Luzi schon nach zwei Stücken ins Ohr); der Einzige, der die Songs nicht gleich am ersten Gitarrenton erkennt; der Einzige, der Henning Mays Bühnenpräsenz nicht sofort erliegt. Aber dann eben doch.
Der 27-Jährige, der mit seiner schlaksigen Figur, den braunen Locken und in seinem blauen T-Shirt aussieht, als wäre er einer Neuverfilmung von „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ entsprungen, er hat definitiv etwas: ein jungenhaft-versonnenes Lächeln, ungekünstelte Zugewandtheit, Ernst und zugleich Begeisterung für die Musik.
Die Serie
In unserer Reihe „Was mach’ ich hier eigentlich?“ gehen unsere Kultur-Kritiker dorthin, wo es sie auf Anhieb nicht hinziehen würde, und werfen einen neugierigen Blick auf eine für sie fremde Welt.
Was er an Bewegungen vollführt, kommt nicht einmal ansatzweise an so etwas wie Choreografie heran: hier die Andeutung eines Tanzschritts, dort ein bisschen linkisches Gezappel. Die Wenigsten, die im Leben nicht nur hinter dem Duschvorhang gesungen haben, würden sich damit vor Publikum wagen.
Halsschlagader lässt Einsatz erkennen
Aber dazu dann eben diese Stimme. Anders denn als „Urgewalt“ lässt sie sich nicht charakterisieren – und will deshalb so gar nicht zu Mays Statur und Appeal passen. Einzig die beim Singen seitlich am Hals heraustretende Hauptschlagader lässt den körperlichen Einsatz erkennen. Beim Zugaben-Klassiker „Nur nicht aus Liebe weinen“ muss Überraschungsgast Peter Brings alles geben, um im Duett mit May stimmlich einigermaßen auf der Höhe zu bleiben. Es hat fast den Anschein, als nähme May sich in den Strophen eine Spur zurück, um das nicht allzu deutlich werden zu lassen.
Vollen Einsatz geben auch Mays Nebenleute Christopher Annen (Gitarre), Severin Kantereit (Schlagzeug) und Malte Huck (Bass): Verausgabung als Beweis für Echtheit, Authentizität. Und als Erfolgskonzept. Ich sehe Luzi und ihre Mädels neben mir hüpfen, jubeln und selig lächeln. Und ich merke: Von Stück zu Stück schwinden auch bei mir Schwulst-Distanz und Pathos-Alarm. Mal ehrlich: Stimmt das denn nicht, was die Jungs da in einem ihrer Liebeslieder singen? „Und ich will, dass es für immer so bleibt. / Und ich glaube, das geht / Vielleicht, vielleicht.“
Vielleicht, vielleicht ist es für die Jungen ja leichter, sich kopfüber in diesen Silbersee aus Hoffnung und Verzweiflung, Verrat und Verlust zu stürzen, eben weil das Leben ihnen noch nicht so mitgespielt hat, wie AnnenMayKantereit es besingen.