- In unserer Serie „Was mach ich hier eigentlich?“ gehen unsere Kultur-Kritiker dorthin, wo es sie auf Anhieb nicht hinziehen würde, wo es ihnen vielleicht sogar persönlich wehtut.
- Dort werfen sie einen neugierigen Blick auf eine für sie fremde Welt.
- In dieser Folge schreibt Christian Bos von seinem Besuch beim Konzert der Kelly-Family in der Lanxess-Arena.
Köln – Die Kelly Family, darüber informieren zwei LED-Wände in der Lanxess-Arena, feiert diesen Herbst 25 Jahre „Over the Hump“. Dabei handelt es sich um jenes Album, das Mitte der 1990er die straßenmusizierende Großfamilie des Exilamerikaners Dan Kelly aus den Fußgängerzonen Deutschlands an die Spitze der Charts katapultierte.Der Patriarch hatte für seine Familie - in dieser Reihenfolge - einen Londoner Doppeldeckerbus, ein Hausboot und Schloss Gymnich, das ehemalige Gästehaus der Bundesregierung, als Wohnstatt erworben. Wäre es mit der Karriere immer so weitergegangen, es hätte als nächstes wohl mindestens die Internationale Raumstation sein müssen.
Doch die Kellys hatten es damals keinesfalls über den Hügel geschafft, wie man heute dank zahlloser Klatschspalten-Bekenntnisse weiß. Im Gegenteil, die Fliehkräfte des Ruhms stellten die Familie vor ihre schwersten Prüfungen, Drogen, Depressionen, Glaubenskrisen, kleine Erhebungen türmten sich plötzlich felshoch auf. Das Tourplakat zeigt die berühmten Cliffs of Moher; wer da über den letzten Grasbuckel springt, landet tief im Abgrund.
Joey Kelly eröffnet den Abend mit donnernden Gitarrenakkorden
Ob das so gemeint ist? Jedenfalls hat sich der nun wieder gemeinsam auftretende Rest der Familie — Paddy fehlt und auch Maite, die als Schlagerstar die Arena alleine füllen kann — vorgenommen, zum Jubiläum das Album zur Gänze und in der Originaltracklist aufzuführen. So wie das verdiente Künstler seit Jahrzehnten zu tun pflegen. Nun ist „Over the Hump“ weder „Pet Sounds“ noch „The Joshua Tree“, aber immerhin eröffnet Joey Kelly den Abend mit donnernden Gitarrenakkorden und ins Publikum gerichteten Verfolgerscheinwerfern, wie weiland Bono Ende der 1980er Jahre.
Joey ist nach dem Auseinanderbrechen der Familie eher als telegener Extremsportler, denn als Musiker aufgetreten. Im Moment scheint er sich gerade zwischen zwei Trainingsphasen zu befinden, unterm schwarzen Glitzeranzug (mit gewaltigem Schlag in den Hosenbeinen) moppelt es ein wenig. Und wenn er später hochroten Kopfs zur Hardocknunmer „Guardian Angel“ über den Steg fetzt, ist das von umwerfender, wenn auch nicht ganz freiwilliger Komik. Zwischen den lodernden Flammen am Bühnenrand wirkt Joey wie ein Möchtegern-Peter-Maffay, den man unter Beigabe von zu viel Hefe noch einmal aufgebacken hat.
Das könnte Sie auch interessieren:
Aber ist das nicht schon wieder viel zu negativ? In den Hochzeiten ihres Erfolgs, als sie eine Betonmauer vor ihr im Mülheimer Hafen vor Anker gegangenes Hausboot hochziehen mussten, weil jugendliche Fans sie Tag und Nacht bedrängten, boten die langhaarigen und kurios gewandeten Kellys das breitest mögliche Ziel für den Spott von Berufszynikern wie Harald Schmidt. In der Rückschau wirken diese Witze über mangelnde Körperhygiene, Kleidersäcke und Kinderreichtum wie die Light-Version von Vorurteilen aus dunkleren Zeiten, billig und verächtlich. Die eigentliche Provokation der Kellys war sowieso ihre Ironieresistenz. Das gilt bis heute. Man lässt ja auch nicht inmitten einer Kindergeburtstagsgesellschaft sarkastische Bemerkungen fallen. Macht man einfach nicht.
Eine Abenteuerreise an die Grenzen des Geschmacks
Aber, zugegeben, es fällt schwer. Wir haben alle unsere Grenzen. Und dass ein Konzert der Kelly Family eine Abenteuerreise an die Grenzen des Geschmacks ist, daran kann kein Zweifel bestehen. Die Frage ist, wieviel man auszuhalten bereit ist? Ich persönlich habe zum Beispiel kein Problem damit, dass Angelo Kelly zur Zugabe davon singt, sich in eine Alien-Frau verliebt zu haben, „draußen auf den Feldern, wo die Bauern Brot anbauen“ (die Kellys haben bekanntlich keine Schule besucht, und das ist so eine Zeile, die einen vermuten lässt, Vater Kelly hätte da beim Erdkundeunterricht etwas ausgelassen). Nein, soll er doch. Zumal Angelo der einzige Kelly ist, der wirklich singen kann. Und was singt er? „We will grow a big family.“ Der Kelly-Traum.
Ich habe auch kein Problem damit, dass Jimmy Kelly, der in der Familiensaga die Rolle des verlorenen Sohns einnimmt, sein Lied „Cover the Road“ all jenen Menschen widmet, die in den vergangenen 25 Jahren gestorben sind. Er hatte Fans aufgefordert, Bilder ihrer toten Angehörigen einzuschicken. Die ziehen nun tränentreibend an uns vorbei, und Jimmy hat sich eigens mit dem Rücken zum Publikum gedreht, damit klar ist, dass es hier nicht um ihn geht. Das ist selbstredend grenzwertig manipulativ, allen Anschein nach jedoch völlig ernst gemeint. Eine Ansage wie „Das Leben ist kurz, man weiß nie, wann die Stunde schlägt“ hört man ja auch eher selten außerhalb des Totensonntagsgottesdienstes, und bestimmt nicht auf einem Popkonzert, das sich mit Haut und Haaren der Harmoniesucht verschrieben hat.
Ich bin ein Alien unter 15.000 Kellyanern
Die treibt einem dann doch den Zynismus aus den Poren. Ich bin ein Alien unter 15.000 Kellyanern. Was denen wohlige Wärme, ist mir ein Schwitzbad des Wahnsinns.Patricia Kelly mag noch so eindringlich „Öffne dein Herz“ fordern, ich komme nicht über den blauen und mit einem Gürtel taillierten Sack hinweg, in den sie sich gehüllt hat, wie eine Weltraumkolonisten in einer Raumschiff-Enterprise-Folge. Ich kann nicht aufhören, auf das mit Weihnachtsdekoration verzierte Clipboard zu starren, das Johnny Kelly immer dann konsultiert, wenn ihm der Text zu „White Christmas“ wieder entfallen ist. Paul Kelly, der die Familienbande vor ihrer „Bravo“-Phase verlassen hat, und an diesem Tourauftaktsabend dankenswerterweise nur eine irische Pubnummer singt, hat die Gedächtnisstützen übrigens ins Innenfutter seiner Mütze geklebt.
Das klingende Äquivalent zum Daumen im Mund
Und ich ringe jedesmal um Contenance, wenn Kathy Kelly, die älteste der Bühnengeschwister, eingenäht in einem Albtraum aus Seide, die Bühne stürmt und nicht schön, aber dafür laut, irgendeine spanische Volksweise jodelt. Sie spielt auf diesem Familienfest die überspannte Tante, die in ihrer Jugend Opernambitionen hegte, und deren Auftritte stets von resignierenden Blicken begleitet werden.
Jammern hilft nichts, hier kommt man nicht raus, ohne hinterher zur erweiterten Verwandtschaft zu gehören. Besser also, alle Hoffnung und alle kritischen Blockaden fahren zu lassen, und in einmütiger Einfalt miteinzustimmen: „Baby smile/ Baby naughty“. Böses Baby, braves Baby. Die Kelly-Gesänge sind von einlullend folkloristischer Schlichtheit, sie sind das klingende Äquivalent zum Daumen im Mund. Songs, die im Refrain zur „Fiesta“ rufen, enden zuverlässig mit einem „Olé“, Rosen sind rot und Familien leben miteinander im singenden Wohlklang. Ich bin ein Alien, möchte ich Ihnen zurufen, noch ein verlorener Sohn, liebt mich! Aber, ach, ich komme einfach nicht über den Hügel.