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Kendrick Lamar in KölnEine Therapiesitzung vor Tausenden von Zuschauern

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Kendrick Lamar in Köln   

Köln – Stellen Sie sich folgenden Traum vor: Sie liegen auf Sigmund Freuds Rosshaardiwan in der Wiener Berggasse 19. Sie beichten dem Doktor Ihre geheimsten Wünsche, Ihre quälendsten Gewissensbisse. Doch an Stelle des berühmten Nervenarztes hört Ihnen die Schauspielerin Helen Mirren zu. Mir scheint, Sie haben vergessen wer sie sind, ermahnt sie Dame Helen. Sie öffnen die Augen. Und sehen kein kleines, plüschiges Praxiszimmer, sondern die Kölner Lanxess-Arena, in deren Mitte Sie auf einer leeren, weißen Bühne liegen.

So gut wie jeder Platz ist besetzt. Im Innenraum rempeln sich aufgeregte junge Männer freundlich an und strecken Ihnen die Arme entgegen. Tausende, zehntausende Augen sind auf Sie gerichtet, tausende von Mündern rufen Ihren Namen: „Kendrick, Kendrick, Kendrick!“

Konzert von Kendrick Lamar in Köln: ein unvergessliches Spektakel

So könnte sich das Kölner Konzert des größten Rappers unserer Zeit am Sonntagabend von innen angefühlt haben. Von außen betrachtet war es ein unvergessliches Spektakel. Eben weil sich Kendrick Lamar dem Spektakel so konsequent verweigert wie kein anderer Star, der weltweit Arenen füllt. Im Mai hat er sein fünftes Studioalbum „Mr. Morale & the Big Steppers“ veröffentlicht, mehr als fünf Jahre nach dem vierten namens „Damn“, für das er mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurden.

Was er in der verlorenen Zeit getan hat? Mit seinen Dämonen gekämpft, mit dem eigenen Gewissen, mit Gottes strengen Geboten und der Institution der Ehe gehadert. Mit anderen Worten: „Mr. Morale“ ist der Ingmar-Bergman-Film unter den Hip-Hop-Alben.

Der Ingmar-Bergman-Film unter den Hip-Hop-Alben

Aber wie verwandelt man dieses innere Drama in eine unterhaltende, massentaugliche Bühnenshow? Eben genau so: Tänzer – die Männer in Schwarz, die Frauen in Weiß – marschieren einen langen Laufsteg bis zur Hauptbühne, die noch hinter einem riesigen weißen Vorhang verborgen ist. Der Vorhang öffnet sich, die Bühne ist leer, bis auf einen weißen Diwan, der auch als Ehebett doubeln könnte, und ein schwarzes Stehklavier. Auf eine Live-Band, wie schon bei der „Damn“-Tour, verzichtet Lamar.

Die Tänzerinnen drapieren sich auf dem Diwan, am Pianino aber sitzt Kendrick Lamar, hämmert die ersten Akkorde von „United in Grief“ in die Tasten und rattert seine größten Verfehlungen herunter. Frauenfeindlichkeit, Ghettomentalität, Kaufräusche. Auf dem Klavierkasten hockt sein Doppelgänger als Bauchrednerpuppe und schaut ihm kritisch zu.

Lamars unheimliche Bauchredner-Puppe

Dann geht der Mann aus dem kalifornischen Compton gemessenen Schrittes zur winzigen Bühne in der Mitte des Laufstegs, sein unheimliches Bauchredner-Alter-Ego hat er dabei fest im Griff, oder ist es genau andersherum? Der große Kendrick trägt ein schwarzes Ensemble von Louis Vuitton, Halskette, Ohrringe und Gürtelschnalle von Tiffany’s, soviel Bling muss sein. Doch die Verse, die er kurz darauf in wahnwitzigen Tempo ausspuckt, lauten: „Zieh den ganzen Designer-Schwachsinn ab und was bleibt? Bitch, du bist hässlich wie die Nacht.“

Immer wieder hebt und senkt sich der Vorhang der Hauptbühne, im geschlossenen Zustand dient er als Projektionsfläche für expressionistische Schattenspiele. Marionettenhände bedrohen die Silhouette des Rappers, Haie umrunden sie, Spinnen senken sich an Fäden zu ihm herab. Später krümmt er sich dem Publikum entgegen, doch das ist keine Geste der Zuwendung: Im Rücken seines Schattenrisses stecken sechs Pfeile. Der Schatten, den man wirft, hat C.G. Jung gesagt, ist das verleugnete Selbst.

Schattenarbeit nennen Therapeuten die Auseinandersetzung mit diesen abgespalteten, dunklen Teilen der Seele. In gewisser Weise gleicht jede darstellende Kunst einer öffentlichen Therapiesitzung, aber nie zuvor hat man das in derart kontrastreicher Deutlichkeit gesehen, wie jetzt bei Lamar.

Permanent unterläuft er die Erwartungen an eine Arena-Show, statt aufgeregt über die Bretter zu titschen, steht er zumeist ganz still, nicht verkrampft, sondern völlig in sich ruhend. Wenn er sich dann rührt, den Kopf kurz Seite dreht, oder sich, von einer mütterlichen Tänzerin von Bühnenrand zu Bühnenrand leiten lässt, sind diese Bewegungen mit so viel Bedeutung aufgeladen, als würden Konfettikanonen aus allen Richtungen feuern.

Kendrick Lamar zum Coronatest verordnet

Ein anderes Beispiel: Bewegliche Bühnenbeleuchtungen gehören zu jedem Konzert, doch wenn sich hier riesige Flächenleuchten langsam von der Decke senken, drohen sie den Rapper zu erdrücken wie hundert Paparazzi-Blitze. Auch kleinere Zweitbühnen im hinteren Drittel des Innenraums gehören zum Arena-Standard, wenn Künstler zur Mitte ihrer Show Fan-Nähe suggerieren wollen. Aber als Kendrick Lamar das pflichtschuldigst tut, senkt sich zugleich ein Kubus aus durchsichtigen PVC-Hüllen über ihn und vier Tänzer in weißen Schutzanzügen verordnen ihm einen Covid-Test.

Dann folgt „Alright“, eigentlich sein mitsingbarstes Stück, aber jetzt trennt ihn ein steriler Vorhang von der eskalierenden Masse und in den eigentlich tröstlichen Refrain „We gon‘ be alright“ schleichen sich Zweifel ein. Ob wir das wirklich schon irgendwie schaffen?

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Und statt seine eigenen größten Hits an den Schluss zu stellen, teilt sich Lamar zum Höhepunkt die Bühne mit seinem Neffen Baby Keem, einem kommenden Rap-Star, der bereits im Vorprogramm wie eine Hauptattraktion gefeiert wurde. Der junge Hund und der alte Hase stehen sich wie im Western-Duell am jeweiligen Ende des Laufstegs gegenüber. Jetzt gewittert das Licht in bunten Farben und Feuerstöße heizen die Luft. Ist das schon eine Wachablösung? Oder hat Lamar Baby Keem als weiteren Doppelgänger gecastet, als jüngeres, rücksichtsloses Ich?

Der 35-Jährige flüchtet sich ans Klavier, singt zu sich selbst: „Du kannst es nicht jedem recht machen.“ Woraufhin auch noch Tanna Leone auftaucht, der erste Support-Act, oberkörperfrei im rot glühenden Höllenlicht, wie ein verlockender Dämon auf einem mittelalterlichen Gemälde.

Es ist die letzte Versuchung Kendrick Lamars. „Ich bin nicht euer Erlöser“, stellt er im letzten Stück „Savior“ fest und verabschiedet sich, bevor er recht abrupt mitsamt Klavier im Bühnenboden versinkt, mit einer Frage: „Freut ihr euch für mich?“ Im Jubel geht dann beinahe Helen Mirrens Therapeutenstimme unter. Sie gratuliert: „You’ve made it out of the box.“ Die Praxis hat geschlossen.