Köln – Drei Jahre lang, sagt Intendantin Birgit Meyer, habe man auf diesen Termin hingearbeitet: Am 4. Dezember 2020 jährt sich zum 100. Mal die Uraufführung von Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ im alten Kölner Opernhaus am Rudolfplatz. Zum Jubiläum gibt es nun im Staatenhaus eine Neuproduktion, inszeniert vom Tatjana Gürbaca, musikalisch geleitet vom Dortmunder Generalmusikdirektor Gabriel Feltz.
Auf eine glanzvolle Premiere darf man nach den jüngsten Corona-Vorgaben der Bundesregierung allerdings nicht mehr hoffen. Immerhin: Sie wird nicht ausfallen. Die Kölner Oper hat sich kurzfristig entschlossen, die Premiere im Livestream zu übertragen. Damit reiht sie sich ein in die wachsende Zahl deutscher Bühnen, die den Widerstand gegen eine Online-Präsentation ihrer Aufführungen fallen lassen.
Unterschied zwischen digital und analog
Natürlich macht es einen erheblichen Unterschied, ob man die Übertragung als Nebenprodukt einer ausverkauften Live-Premiere anbietet oder gewissermaßen vor leerem Haus streamt. Eine aufwendige Bühnenpräsentation in Echtzeit, mit gut 150 Mitwirkenden vor und hinter der Szene, die lediglich für Kameras und Mikrofone in Aktion treten – das ist schon eine bizarre Vorstellung. An die man sich aber vorerst wohl gewöhnen muss.
„Wir stehen als Haus immer noch dafür, dass wir sagen: Das Live-Erlebnis, das ist Theater, und nicht das andere“, so Birgit Meyer. „Wir haben auch im ersten Lockdown nichts gestreamt. Wir sind stattdessen auf die Wiese gegangen, haben kleinere Sachen produziert, um Kontakt zum Publikum zu halten. Aber wenn nun der Lockdown verlängert wird, dann würde das bedeuten, dass wir all das verlieren, was wir über Jahre hinweg geplant und auch bereits gebaut haben. Daher dachte ich, es sei eine schöne Möglichkeit, diese Zeit zu überbrücken, indem wir zwei Teams verpflichten, die unsere Produktionen streamen.“
Auch „Written on Skin“ im Netz
Nicht nur die Premiere von „Die tote Stadt“ am 4. Dezember wird online übertragen. Auch George Benjamins Kammeroper „Written on Skin“, deren Premiere coronabedingt auf den 1. Dezember verschoben wurde, wird in der Inszenierung von Benjamin Lazar und unter der musikalischen Leitung von François-Xavier Roth termingerecht durchs Netz strömen, allerdings nicht live: Hier wurde aus den Endproben ein Film produziert, der am Abend gestreamt wird, während im leeren Saal die Premiere stattfindet – für weiteres Bild- und Tonmaterial, das dann für einen verbesserten Endschnitt hinzugezogen wird.
Mit „Written on Skin“ und „Die tote Stadt“ rücken Werke zusammen, die auffällige Parallelen zeigen und zugleich auf spannende Weise komplementär sind. In beiden Werken führt obsessiver Eros zu tödlicher Gewalt. „Die tote Stadt“ – das ist das alte, vom urbanen Leben verlassene Brügge mit seinem versandeten Hafen, seinen schwarz aufragenden Klostermauern, seinem in mittelalterlicher Düsternis erstarrten Katholizismus.
Infos
Den Online-Zugang bietet die Oper Köln auf ihrer Website über ein neuartiges „Pay-as-you-wish“-Modell an – mit Preiskategorien zwischen Null und 350 Euro. Ob Opernfreunde die Produktionen noch live im Staatenhaus erleben können, hängt davon ab, wie weit die geplanten vorweihnachtlichen Lockerungen am Ende umgesetzt werden. In diesem Falle würde die Kölner Oper ihren Spielplan kurzfristig nachjustieren, um noch möglichst vielen Menschen den Besuch zu ermöglichen.
www.oper.koeln/de
Auch in „Written on Skin“ wird eine versunkene Welt beschworen. Dem Werk liegt eine französische Legende aus dem 13. Jahrhundert zugrunde. Ein Großgrundbesitzer beauftragt einen Illustrator mit der Darstellung seines Lebenswerkes. Zwischen dem Maler und der jungen Ehefrau des Auftraggebers entwickelt sich eine Liebesbeziehung, die nicht unentdeckt bleibt. Am Ende serviert der Ehemann seiner Frau das Herz des Geliebten zum Nachtmahl.
Beide Opern brechen die Geschichte durch ein raffiniertes Spiel von Vision und Realität, von Symbol und Gleichnis kunstvoll auf. Bei Korngold geschieht das in den üppigen Klangdekors der Nachromantik, bei Benjamin als feingliedriges Kammerspiel in delikaten, französisch legierten Farben – der 1960 geborene Brite war Schüler von Olivier Messiaen, was man der Partitur deutlich anmerkt.
Uraufführung 2012
In beiden Opern tun sich interessante Schnittstellen zum Medium des Films auf. Korngold, der nach seiner Emigration zu einem der erfolgreichsten Komponisten Hollywoods avancierte, arbeitet schon hier mit Schnitt- und Spannungsdramaturgie; das Stück wirkt zuweilen wie ein Vorläufer von Hitchcocks „Rebecca“. Die Überblendung von Buchpergament und menschlicher Haut in Benjamins „Written on Skin“ wiederum zeigt deutliche Anleihen an Peter Greenaways „The Pillow Book“ (1996).
Die Oper wurde 2012 in Aix-en-Provence uraufgeführt und seitdem von zahlreichen Bühnen nachgespielt – ein durchaus seltener Fall im zeitgenössischen Musiktheater. Worin liegen die Gründe für diesen ungewöhnlichen Erfolg? „Die Geschichte ist alt, aber sie ist mit ganz neuartigen Mitteln erzählt“, sagt François-Xavier Roth. „Es gibt viele Referenzen an Dinge, die wir bereits kennen, an Alban Bergs »Wozzeck« und »Lulu«, an Benjamin Britten, aber auch an Henry Purcells Barockoper »Dido und Aeneas«. Dazu kommt eine sehr kompakte Form – das Stück dauert nur etwa anderthalb Stunden, es ist äußerst effizient gearbeitet.“
Auflagen sorgen für Schwierigkeiten
Befürchtet der Kölner GMD nicht, dass von der subtilen Instrumentierung der Oper im Stream zu viel verloren gehen könnte? „Im Gegenteil“, so Roth, „ich denke, dass man durch die Mikrofone viele Farben und Details im Orchester gerade besonders präzise erleben kann. Der Saal 2 im Staatenhaus ist ja doch sehr groß für die feine und leise Dynamik der Musik.“
Oper in Corona-Zeiten – das heißt: Berührungsverbot auf der Bühne, vier Meter Abstand in Singrichtung, strenge Hygieneregeln bei der Handhabung der Requisiten. Nicht ganz leicht bei Stücken, die von erotischer Besessenheit geprägt sind, die von körperlicher Nähe, sinnlichen Reizen und roher Gewalt handeln.
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Tatjana Gürbaca, die bereits mehrfach an der Kölner Oper inszeniert hat, sieht aber gerade in Korngolds „Die tote Stadt“ einen Spiegel der gegenwärtigen Lebenssituation: „Dieser Mann, der sich so ganz in seiner eigenen Blase verkapselt, der unter einer großen Einsamkeit leidet, der alten Zeiten nachträumt und sich auf das Neue gar nicht einlassen kann – ich finde, das hat sehr viel mit unserer Situation heute zu tun. Auch wir sind im Moment dazu genötigt, uns immer mehr in uns selber zurückzuziehen.“
Entsprechend fasst die Regisseurin den Titel der Oper auch als Metapher auf: „Es ist ähnlich wie in Verdis ’La traviata’, wo Violetta von der ’Wüste Paris’ spricht, in der die Menschen wie entseelt nebeneinander herlaufen und eigentlich alle der gleichen inneren Einsamkeit ausgesetzt sind.“