Das Silvesterkonzert des WDR-Sinfonieorchesters bot mit einem rein US-amerikanischen Programm teils etwas beliebige Unterhaltung.
Kölner PhilharmonieStatt Weltuntergang eine Wohlfühl-Apokalypse
Der furiosen Tutti-Eröffnung folgt prompt ein ruhiger Streichersatz, aus dem die ersten Pulte als Streichquartett hervortreten. Ebenso abrupt und häufig wie die Besetzung wechselt der Stil zwischen Klassik, Samba, Blues und diversen Zitaten. Ständig schlägt die Musik überraschende Haken. Leonard Bernstein schrieb sein quirliges „Divertimento“ 1980 anlässlich des hundertjährigen Bestehens des Boston Symphonie Orchestra als wollte er hundert Jahre Musikgeschichte darin unterbringen. Die acht Sätze der Suite dauern meist kaum mehr als eine Minute und jetten kreuz und quer durch Sparten und Epochen. Es gibt Anleihen bei Jazz, Richard Strauss, Tschaikowsky und Strawinsky. Im dritten Satz erklingt das Oboensolo aus dem Kopfsatz von Beethovens 5. Symphonie. Das Schlussstück beginnt elegisch als zartes Flötenduett und wird dann unter Anlehnung an Johann Straußʼ „Radetzkymarsch“ zum triumphalen Marsch.
Julia Bullock gestaltete die Lieder mit schönem, dunklem Timbre
Das Silvesterkonzert des WDR-Sinfonieorchesters unter Leitung des lettischen Dirigenten Andris Poga bot ein rein US-amerikanisches Programm. Termingerecht sollte es unterhaltend und schwungvoll zugehen. Selbst die „Five Freedom Songs“ der 1981 geborenen afroamerikanischen Komponistin Jessie Montgomery boten eine leichte Vertonung von schwerem Stoff. Der Liederzyklus für Sopran, Schlagzeug und Streichorchester basiert auf Spirituals der Anthologie „Slave Songs“ von 1867. Über dem zehnmaligen Ausruf „My Lord, what a morning“ treten Blues-Akkorde und Drumset gleichförmig auf der Stelle. Statt textliche Redundanzen zu musikalisch-expressiven Neubeleuchtungen zu nutzen, wirkten die Stücke allesamt wie mit der Handbremse komponiert, reduziert und stimmungsvoll, aber gedankenleer und teils regelrecht beliebig. Kaum mehr Energie entfaltete das dritte Lied „Der Tag des Jüngsten Gerichts“ mit einigen dezenten Schlägen auf Metall. Statt Weltuntergang eine Wohlfühl-Apokalypse.
Sopranistin Julia Bullock gestaltete die Lieder mit schönem, dunklem Timbre, doch wenig Varianz und Strahlkraft. An der Seite von Bassist Alfred Walker gaben ihr dann ausgewählte Höhepunkte aus George Gershwins Oper „Porgy and Bess“ ungleich mehr Gelegenheit, ihre Qualitäten auszusingen, etwa im Evergreen „Summertime“ und dem Liebesduett von Bess und dem invaliden Bettler Porgy. Der „Aufbruch ins Gelobte Land“ fährt wie einen Zug in mehreren Accelerando-Wellen langsam an, um schließlich in vollem Tutti und Chor mit rasantem Rattern durch die Philharmonie zu brausen. Der um zehn Gäste zu großer Klangfülle verstärkte WDR-Rundfunkchor glänzte bei vielen swingenden Nummern, vor allem dem aufgekratzten „Oh, I Can´t Sit Down“. Das Orchester trat mit vielen schönen Soli hervor und rahmte Chor und Solisten dynamisch differenziert mit zündenden Vor-, Zwischen- und Nachspielen.