Die Raumsonde Voyager 1 sendet wieder Signale zur Erde. Radioastronomen Heino Falcke meint: Maschinen und Menschen haben mit Einsamkeit zu kämpfen.
Kolumne von Heino Falcke24 Milliarden Kilometer entfernt vom Kölner Dom
Der einsamste Ort unserer Welt befindet sich 24 Milliarden Kilometer entfernt vom Kölner Dom, und es wird dort immer stiller und einsamer. An diesem Flecken ist nach einer 46-jährigen Odyssee eines der erfolgreichsten Satellitenprojekte der Menschheitsgeschichte in seine letzte Lebensphase getreten. Die Raumsonde Voyager 1 hat in ihrer aktiven Zeit spektakuläre Bilder von den Riesenplaneten Jupiter und Saturn geschossen, hat als erste unser Sonnensystem verlassen und ist bis in den interstellaren Raum eingedrungen - so weit wie kein Weltraumreisender vor ihm.
Jetzt gehen seine Energiereserven zur Neige, die Kommunikation zur Erde wird langsamer, und sein Gedächtnis fällt nach und nach aus. Zu Beginn des Jahres erschraken die noch wenigen beteiligten Ingenieure, als die legendäre Sonde nur noch unverständliches Kauderwelsch sendete. Der künstliche Satellit schien völlig den Verstand verloren zu haben, und Weltraumenthusiasten in aller Welt begannen, über das einsame Dahinscheiden eines ihrer großen Ikonen digitale Tränen zu vergießen.
Es ist schon erstaunlich, welche emotionale Resonanz die Demenz einer Maschine unter nüchternen Technikern auslösen kann. Aber Einsamkeit ist eben ein Thema, das alle Menschen verbindet und über das wir eigentlich viel zu wenig reden. Das wurde mir besonders deutlich, als ich den Anruf eines alten Unternehmers bekam, der mir auf dem Anrufbeantworter sein Leid klagte. Diese Gesellschaft bräuchte mehr Miteinander, meinte er. Meine vorige Kolumne hier über unser Zusammenleben habe ihm aus dem Herzen gesprochen. Gerne würde er jetzt einmal mit mir reden wollen. Früher sei er sehr aktiv gewesen, aber jetzt habe er keinen mehr, mit dem er seine Gedanken austauschen könnte. Ich war berührt. Aber ich kann doch nicht auf jede Leserzuschrift und jeden Anruf reagieren. Dafür habe ich einfach keine Zeit...
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Dann musste ich unwillkürlich an den einsamen Voyager denken, der da draußen im All vor sich hin brabbelt und dem gerade auch keiner mehr zuhört. Wird es mir irgendwann ähnlich gehen? Bin ich darauf vorbereitet, wenn mich einmal die Einsamkeit umfängt? Wie geht es anderen damit? Wo sitzen jetzt Menschen einsam unter uns - nicht in den Tiefen des Alls, sondern mitten in meiner Stadt? Wie viele fühlen sich gerade so, als ob sie in einem tiefen schwarzen Loch säßen? Ihre Worte kommen nicht mehr an. Sie werden nicht mehr gehört. Der einsamste Ort der Welt ist vielleicht direkt nebenan.
Glaubt man Studien, sind es heute nicht nur alte, sondern auch gerade viele junge Menschen, die unter Einsamkeit leiden. Gibt es bei uns noch genug Gemeinschaftsorte? Orte, wo ich sein kann, ohne bezahlen zu müssen, ohne Leistung bringen zu müssen? Gibt es noch genug Gemeinschaftsgefühl? Ich kann sagen, dass ich in meiner Jugend viel Gemeinschaft in kirchlicher Jugendarbeit und im Sportverein erlebt habe. Dafür bin ich bis heute dankbar. Es war nicht alles schlechter früher.
Einsamkeit begegnet man durch Begegnung. Je früher man damit anfängt, desto besser. Aber ganz vermeiden können wir sie nicht. Jeder und jede von uns wird Momente der Einsamkeit erleben. Sind wir darauf vorbereitet?
Bevor Jesus anfing, zusammen mit seinen Freunden und Schülern die Welt zu verändern, ging er erst einmal 40 Tage in die Einsamkeit der Wüste. Wenn wir heute 40 Sekunden auf den Bus warten müssen, zücken wir sofort das Smartphone. Dann stehen wir gemeinsam einsam an der Haltestelle.
Vielleicht, sage ich mir, müssen wir Einsamkeit und Gemeinsamkeit bewusst einüben: die Gemeinschaft, weil wir sie so dringend brauchen; die Einsamkeit, weil wir ihr nie ganz entgehen können und weil vielleicht auch eine Kraft in ihr liegt. Aus der Einsamkeit können neue Gedanken entstehen, und ich kann zumindest noch an andere Menschen denken.
Übrigens haben die Ingenieure der Nasa den Gedächtnisausfall von Voyager 1 mittlerweile korrigiert - die Sonde kommuniziert wieder mit uns. So ganz alleine ist sie dann doch nicht gewesen. Es gibt ein paar Menschen, auf der Erde, die sich immer noch um sie kümmern und sich um sie sorgen. Der Weg von Voyager ist noch nicht zu Ende.
Den einsamen Anrufer habe ich irgendwann dann doch zurückgerufen. Er war mir einfach nicht aus dem Kopf gegangen. Als ich mich bei ihm meldete, konnte er sich nicht mehr an mich erinnern. Trotzdem war er froh, dass mal irgendjemand anrief. Irgendwie war ich erleichtert. Vergesslichkeit kann auch mal ein Segen sein.
Zur Person
Heino Falcke ist Professor für Radioastronomie an der Radboud-Universität Nijmegen (NL) und Buchautor. Er lebt in Frechen. Im Ehrenamt ist Falcke Prädikant (Laienprediger) der Evangelischen Kirche im Rheinland.
Gemeinsam mit seiner Frau Dagmar hat Falcke das Kinderbuch „Kekskrümel im All“ geschrieben.