Mit dem ukrainischen Dokumentarfilm „Chernobyl 22“ gewann ein obskurer Beitrag die 69. Oberhausener Kurzfilmtage. Offenbarungen fanden sich besonders in den Nebenreihen.
Kurzfilmtage OberhausenEs ist immer besser, Klassiker zu schauen als Kriege und KI
Lieber hätte er seinen Film gar nicht gedreht, bekannte der Gewinner des Großen Preises von Oberhausen, der ukrainische Filmemacher Oleksiy Radynski mit Blick auf die verbrecherische russische Invasion. Sein dokumentarischer Kurzfilm „Chernobyl 22“ behandelt die Besetzung des seit der Reaktorkatastrophe von 1986 weltbekannten Kernkraftwerks aus der Perspektive einiger Angestellter. Bei Entgegennahme des 8000 Euro schweren Hauptpreises des ältesten deutschen Kurzfilmfestivals spaltete er das Publikum freilich sogleich, als er ergänzte: „Der Krieg in der Ukraine wäre längst zu Ende, wenn nicht politische Eliten, auch in Deutschland, nicht wollten, dass Russland ihn verlöre.“
Man kann kaum über die Tatsache debattieren, dass hierzulande, anders als in manchen osteuropäischen Staaten, eben keine Wirtschaftseliten in der Regierung sitzen – und wohl auch keine Putin-Fans. Wohl aber über die Qualität des formal obskursten Festivalgewinners seit Jahrzehnten.
Die Interviews mit den Kraftwerksmitarbeitern, von denen sich einer rühmt, auch im Falle eines Atomunfalls seinen Platz niemals verlassen zu wollen, bleiben unpersönlich und bieten kaum neue Informationen. Das kolportierte Schelmenstück, den Russen kostbares Benzin abgeschwatzt zu haben, um angeblich den Reaktor zu kühlen, ist fraglos lobenswert. Doch die Form des Films unterscheidet sich kaum von den offiziellen Regierungsveröffentlichungen, aus denen sich die Nachrichtensendungen bedienen. Natürlich kann auch Propaganda ästhetische Relevanz gewinnen, doch der 20-Minutenfilm besitzt nicht die Spur einer persönlichen Handschrift. Vielleicht ließe sich das Material in einem Langfilm differenzierter ausarbeiten, aus den spezifischen Möglichkeiten der kurzen Form macht er wenig. Doch es ist keineswegs der künstlerische Tiefpunkt unter den ausgezeichneten Filmen.
Ein Sonderprogramm war dem verstorbenen Filmemacher Jean-Marie Straub gewidmet
Den setzte der niederländische Beitrag „Let’s Be Friends“ über das Modethema „künstliche Intelligenz“, der den Preis der ökumenischen Jury erhielt. Schon im Vorspann rühmen sich die Filmemacher Arno Coenen und Rodger Werkhoven vollmundig, den weltweit ersten Film mit der neuen Technologie gedreht zu haben, im Abspann danken sie bereits den Kurzfilmtagen und einem Mitglied seiner Auswahlkommission. Dabei warfen schon vor Jahren im Oberhausener Musikvideo-Wettbewerb automatisch generierte Visualisierungen in Technoclips die Problematik einer in die Hände von Maschinen übertragenen Autorenschaft auf. Dieser banal-humorige Film verführt lediglich eine Reihe von artifiziell erzeugten GesprächspartnerInnen der Filmemacher zu belanglosen Unterhaltungen. Für ein Festival, das auch in seiner 69. Ausgabe bedeutende künstlerische Einreichungen abgelehnt hat, darunter „No Animal“, das neue Werk von Matthias Müller und Christoph Girardet über tierische Handlungsträger auf der großen Leinwand, ist das belanglose Geplänkel ein Armutszeugnis.
Natürlich ist es ungerecht, ein Festival mit Tausenden von Einreichungen an seinen Ablehnungen zu bewerten, ohnehin macht das geschichtsbewusste Oberhausen gerne historische Fehlentscheidungen selbst zum Thema. Im Eröffnungsprogramm dieser 69. Ausgabe erinnerte Direktor Lars-Henrik Gass aus Anlass des Todes von Jean-Marie Straub an dessen frühe Böll-Verfilmung „Machorka-Muff“. 1963 zunächst abgelehnt, wurde das pazifistische Werk nach Protesten außer Konkurrenz gezeigt: Überaus aktuell erscheinen heute darin die Zeitungsausschnitte, die für eine Re-Militarisierung der Bundesrepublik und eine Stärkung der Rüstungsindustrie werben.
Gernot Wielands „Turtleneck Phantasies“ ragte im deutschen Wettbewerb heraus
Es ist wenig bekannt, dass Straub auch nach dem Tod von Danièle Huillet 2006 noch zwanzig meist kurze Filme drehte. Liebevoll kommentiert von Weggefährten seiner späten Schaffensjahre, versammelte das Festival jetzt vier von ihnen in einem Sonderprogramm, darunter eines seiner schönsten Werke: „Itinéraire de Jean Bricard“, erzählt zu Schwarzweißaufnahmen einer Flussfahrt von Huillets Kindheit an der Loire-Insel île Coton und deren Bedeutung für die Résistance. Es sind auch die letzten Bilder des großen Nouvelle-Vague-Kameramanns William Lubchantsky, der seit den Anfängen von Straub-Huillet verantwortlich war für den heimlichen ästhetischen Überschuss ihrer zugleich konzeptuellen Werke.
An dieser Schnittstelle bewegten sich auch weitere Werkschauen, mit denen das Festival wieder einmal für die unebene Qualität seiner Wettbewerbe entschädigte. Das umfangreiche Filmwerk des Künstlers Marcel Broodthaers war zum ersten Mal seit einer umfassenden Düsseldorfer Museumsretrospektive vor mehr als zwei Jahrzehnten in Deutschland zu sehen. Noch sinnlicher ist das diskursive Kino der Amerikanerin Lynne Sachs. Vor dem Hintergrund feministischer Theorie entwickelt die Künstlerin seit den 90er Jahren eine filmische Poesie, in der sich Worte und Bilder behutsam konterkarieren – und dabei buchstäblich unter die Haut gehen. Persönliche und kollektive Geschichtserfahrungen verbinden sich in einem Stil komplexer Leichtigkeit, verführerisch und doch desillusionierend. In den Gesprächen mit der portugiesischen Kuratorin Cintia Gil blieb kaum ein Bedeutungssplitter unerkannt.
Auch in den Wettbewerben gab es Werke von hoher poetischer Kraft. Herausragend „Turtleneck Phantasies“ von Gernot Wieland, der mit diesem persönlichen Essayfilm den deutschen Wettbewerb gewann. Aus den Super-8-Filmen seines Vaters destilliert er mal mitteilsame, mal rätselhafte Fundstücke wie sinnbefreite Himmelsbilder. Verwoben zu einem hypnotischen Gedicht aus Bild und Monolog hebt der private Mikrokosmos an in Richtung eines verwegenen Gesellschaftspanoramas.