Erkan Arikan spricht über die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Imamoglu, Ausschreitungen in der Türkei und was den Präsidenten Erdogan stoppen könnte.
DW-Chef Türkei„Erdogan wird über Leichen gehen, im wahrsten Sinne des Wortes“

Die Polizei feuert während einer Demonstration Tränengas ab, nachdem der Bürgermeister von Istanbul, Imamoglu, festgenommen und inhaftiert wurde.
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Die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu erweist sich als riskant für den türkischen Präsidenten Recep Erdogan. Könnte er einen Schritt zu weit gegangen sein?
Erdogan hat damit die Büchse der Pandora geöffnet. Am Mittwoch, nachdem Hunderte Polizisten Imamoglus Haus durchsuchten, brachen ähnliche Ausschreitungen aus wie beim Gezi-Widerstand im Jahr 2013. Millionen gingen auf die Straße. Trotz der brutalen und unverhältnismäßigen Gewaltanwendung durch die Polizei, der Festnahme von mehr als tausend Menschen und der Einschränkung der sozialen Medien breiteten sich die Proteste in Wellen aus. Universitätsstudierende, die noch nie einen anderen Präsidenten als Erdoğan erlebt haben, weil er seit 23 Jahren an der Macht ist, gingen auf die Plätze, um ihren „Ekrem-Präsidenten“ zu schützen. An vielen Universitäten hat der Boykott von Vorlesungen begonnen.
Ähnliche Ausschreitungen wie beim Gezi-Widerstand 2013
So brutal, wie die Polizei und Sicherheitskräfte vorgehen: Was könnte im schlimmsten Fall mit ihnen passieren?
Ich male mir das lieber nicht aus, aber Situationen, wie wir sie damals in China auf dem Platz des himmlischen Friedens erlebt haben, könnten so ähnlich auch in der Türkei passieren. Der Machtrieb Erdogans ist so exorbitant groß, dass er alles unternehmen wird, diese Macht zu behalten. Er wird über Leichen gehen, im wahrsten Sinne des Wortes.
Könnten die Proteste Erdogan wirklich gefährlich werden?
Was ich bemerkenswert finde: Normalerweise sind die Türken bei Protesten zurückhaltend, aus Furcht vor den Folgen. Bei den Gezi-Protesten waren die Proteste nur auf einen bestimmten Bereich von Istanbul konzentriert. Die Dynamik reicht jetzt deutlich weiter. In 80 Provinzen ist am Wochenende demonstriert worden. Den Menschen ist die Bedrohung also mittlerweile egal. Anfangs waren die Proteste eine Imamoglu-Protestaktion, mittlerweile sind es Proteste für die Demokratie. Erdogan muss jetzt aufpassen, dass er keine falschen Entscheidungen trifft.
Er wird über Leichen gehen, im wahrsten Sinne des Wortes.
Es gab mal sehr viele Befürworter Erdogans in der Türkei. Wie ist die Lage mittlerweile?
Die Türkei war tatsächlich lange gespalten. Durch die immer schlechtere wirtschaftliche Situation sind wir aber an einem Punkt angelangt, wo selbst Hardcore-Erdogan-Wähler mit ihm gebrochen haben. Ich gehe davon aus, dass sich 70 bis 75 Prozent der Bevölkerung gegen ihn stellen würden. Das weiß Erdogan. Darum hat er ja auch seinen stärksten Kandidaten aus dem Weg geschafft. Die Verhaftung Imamoglus sollte dessen Partei, die CHP, eigentlich schwächen. Das Gegenteil ist der Fall. Am Wochenende hat die CHP einen klugen Schachzug gemacht, als sie nicht nur innerhalb ihrer Partei erfolgreich darüber abstimmen ließ, Imamoglu als Präsidentschaftskandidaten aufzustellen, sondern sogenannte Solidaritäts-Wahlurnen aufstellte. Weitere 15 Millionen Türken stimmten so für Imamoglu.
Sind die Vorwürfe der Regierung gegen ihn komplett hanebüchen?
Ja. Die Staatsanwaltschaft hat gerade den Terror-Vorwurf fallen lassen. Nun liegen noch Bestechungsvorwürfe und Untreue auf dem Tisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das stimmt. Imamoglu hätte es schlicht nicht nötig. Er ist ein schwerreicher Mann, hat Ländereien noch und nöcher an der Schwarzmeerküste. Die Vorwürfe sollen allein dazu dienen, seinen Leumund zu schädigen. Das wissen alle.

Erkan Arikan ist Leiter der Deutschen Welle Türkei und Mitglied der Chefredaktion
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Türkei: Proteste für die Demokratie
Zumal die Absetzung von Bürgermeistern ein längst bekanntes Mittel in anderen Städten ist.
Genau. Ich muss leider auf einen abgedroschenen Satz zurückkommen: Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei. Erdogan hat das während seiner Amtszeit als Bürgermeister Istanbuls selbst umgesetzt, weil gefühlt fast 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus Istanbul kommt. Jeder Oppositions-Bürgermeister, der gute Arbeit in seinem Stadtteil leistet, ist von Erdogan abgesetzt worden. Ich bin übrigens kein Fan von Imamoglu, aber als jemand, der sich Fakten anschaut, muss ich sagen: Erdogan hat den Bogen absolut überspannt.
Was haben Sie gegen Imamoglu?
Ich habe den Eindruck, dass er sich viele Sachen von Erdogan abgeguckt hat. Man sagt über Imamoglu auch, er sei Erdogan 2.0. Die meisten in der Türkei sind der Ansicht, sie müssten sich zwischen Pest und Cholera entscheiden. Nur grassiert die Pest im Moment so schwer, dass sie hoffen, dass die Cholera besser sein wird. Imamoglu gilt als sehr schwieriger Politiker, der sehr schnell aggressiv und ungeduldig wird, wenn ihm die Umsetzung seiner Pläne zu lange dauert. Dieses Verhalten ist bei Politikern in der Türkei leider ziemlich gängig.
Man sagt über Imamoglu auch, er sei Erdogan 2.0. Die meisten in der Türkei sind der Ansicht, sie müssten sich zwischen Pest und Cholera entscheiden.
Was weiß man über die anderen rund 100 Menschen, die mit Imamoglu verhaftet worden sind? Das war ja eine konzertierte Aktion.
Absolut. Es ging darum, viele Leute aus seinem Umfeld wegzusperren wie etwa den Istanbuler Generalsekretär oder auch Redakteure und Chefredakteure des Fernsehkanals der Istanbuler Stadtverwaltung. Erdogan wollte Vetternwirtschaft ankreiden. Einige Verhaftete sind bereits unter Auflagen auch freigelassen worden, aber viele andere nicht.
Die Opposition wirft Erdogan vor, dass er die Abstimmung eines nationalen Notfallplans für das schwer erdbebengefährdete Istanbul verweigert und der Stadt zustehende Gelder zurückhält, mit dem Ziel, der regierenden Opposition zu schaden. Gefährdet er Menschenleben einzig und allein für seinen Machterhalt?
Das ist sein Prinzip. Er will der politischen Konkurrenz schaden, wo es nur geht, um dann zu sagen: Schaut mal, die machen doch gar nichts für euch. Mit dem Ziel, dass bei den nächsten Kommunalwahlen wieder AKP-Bürgermeister gewählt werden. Erdogan zählte immer als ein sehr intelligenter Politiker, aber ich glaube, jetzt hat er einen großen Fehler gemacht hat. Die Leute sind nicht dumm. Nach 22 Jahren wissen sie genau, wie Erdogan tickt.
Bislang kaum diplomatischer Druck gegen Erdogan – Solidaritätsbekunden nicht ausreichend
Was könnte Erdogan stoppen?
Erdogan wird sich nur davon stoppen lassen, dass man ihm die sprichwörtliche Pistole auf diplomatischen Wegen auf die Brust setzt.
Gibt es diplomatischen Druck?
Ich sehe so gut wie gar keinen Druck. Ein paar Solidaritätserklärungen werden aber nicht reichen. Die globale Situation ist derzeit ungeheuer polarisiert. Dazu kommt die neue verteidigungspolitische Strategie der EU. Sie hat sich nach dem Wegfall der USA als Partner erhofft, wieder enger mit der Türkei zu arbeiten. Die Türkei beliefert viele EU-Staaten mit Waffen, Erdogan erhofft sich davon sehr viel Geld. Wenn die EU und Nato-Partner ihm die Zusammenarbeit verweigern würden, könnte das Erdogan sehr treffen. Der finanzielle Stachel sitzt im Moment sehr tief. Es gibt viele internationale und auch deutsche Firmen, die wegen der politischen Situation nicht mehr in der Türkei investieren wollen. Auch hier ließe sich Druck ausüben.

Auch Studierende nahmen an den Demonstration in der Türkei teil, nachdem der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, festgenommen und inhaftiert wurde.
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Erdogan hat die EU bislang mit dem sogenannten Flüchtlings-Deal erpressen können. Ist das durch den Sturz Assads in Syrien für ihn schwerer geworden?
Nein. Er könnte immer noch die EU-Grenzen für syrische Geflüchtete aufmachen und sagen: Da habt ihr den Salat. Erdogan hat zwar immer prophezeit, dass der Friede in Syrien auch die Rückkehr der syrischen Flüchtlinge bedeuten würde. Aber die Millionen Geflüchteter haben sich in über zehn Jahren Existenzen aufgebaut in der Türkei. Die Fremdenfeindlichkeit in der Türkei wird zwar immer größer, weil auch Erdogan diesen Nationalismus anfacht. Trotzdem wollen viele Syrer nicht in ihre Heimat zurück, weil die Situation dort so unsicher ist.
Wir bleiben hier bis zum Schluss, wir lassen uns nicht von Erdogan vertreiben. Das ist unser Land, wir berichten über alle schrecklichen Sachen, die dieser Mann macht.
Wie verzweifelt sind die Menschen in der Türkei darüber, dass es keinen diplomatischen Druck gibt, auch aus Deutschland?
Dem Auswärtigen Amt scheinen gerade die Hände gebunden zu sein. Wir haben keine fertige Bundesregierung. Je schneller eine Regierung in Deutschland am Start ist, desto schneller können auch seitens Deutschland gewisse Maßnahmen getroffen werden, um Erdogan zu signalisieren: Stopp.
Wie ist die Situation für die Deutsche Welle? Auch Ihre Mitarbeitenden sind ja konstant bedroht.
Wir haben am Montagmorgen wieder zahlreiche Verhaftungen von Journalisten erlebt. Einer meiner Reporter ist von der Polizei massiv angegangen worden, als er Protestierende filmte. Sie müssen stets damit rechnen, dass die Staatsanwaltschaft und die Polizei vor der Tür stehen. Wir sind als Deutsche Welle in der Türkei die Gralshüter der Presse- und Meinungsfreiheit. Obwohl mich das besorgt, sind meine Mitarbeitenden so idealistisch veranlagt, dass sie sagen: „Wir bleiben hier bis zum Schluss, wir lassen uns nicht von Erdogan vertreiben. Das ist unser Land, wir berichten über alle schrecklichen Sachen, die dieser Mann macht.“
Die Seite der Deutschen Welle ist in der Türkei seit 2022 gesperrt. Aber die Menschen in der Türkei wissen, wie man diese Sperren technisch umgeht, um die Nachrichten zu lesen.
Genau, das ist unser Glück. Wir haben deshalb schon fast wieder die gleiche Reichweite wie seit unserer Sperrung im Juni 2022. Die Menschen wünschen sich unabhängige Nachrichten. 95 Prozent der türkischen Medien sind gleichgeschaltet. Das habe ich am Wochenende wieder erlebt: Es gab nur ein oder zwei Oppositions-Fernsehsender, die von den Protesten vor dem Istanbuler Verwaltungsgebäude berichtet haben. Deswegen ist es umso wichtiger, dass Medienhäuser wie die Deutsche Welle im Ausland bestehen bleiben.