„Liebe deine Stadt“ als soziale PlastikJoseph Beuys’ Sorge für die Stadt
Köln – Die 100-Jahr-Feier von Joseph Beuys im Jahre 2021 hat gezeigt, dass die Kunst von Beuys heute wie ein Spiegel funktioniert. Sie reflektiert sowohl die damalige Gegenwart, also die Phase der Nachkriegszeit, des Wirtschaftswunders und des Kalten Kriegs der 1950er bis 1980er Jahre wie auch unsere heutige Gegenwart.
Die Aktualität von Beuys liegt nicht darin, dass er die Zukunft vorwegnahm. Sondern darin, dass wir angesichts seiner Werke sehen, was Kunst sein könnte.
Was sehen wir, wenn wir angesichts von „Liebe Deine Stadt“ in den Spiegel Beuys blicken? Als erstes sehen wir die soziale Plastik. „Liebe Deine Stadt“ hat aufgegriffen, was Beuys über Jahre als Idee entwickelte. „Liebe Deine Stadt“ ist ein gemeinschaftliches Vorhaben, Anstoß zum permanenten Gestalten und Umgestalten über einen langen Zeitraum. Es gibt zwar einen Initiator, aber die Autorschaft tritt in den Hintergrund. Eine Vielzahl von Akteuren engagiert sich und sorgt sich um den Schutz von Gebäuden und damit für das Leben und Zusammenleben.
„Liebe Deine Stadt“ steht in einem anderen historischen Kontext als die Kunst von Beuys. Beuys setzte sich ein für die Durchsetzung der Kunst seiner Zeit. Die damals neueste Architektur interessierte ihn wenig. Im Unterschied zu Beuys, der zuerst die Gesellschaft verändern wollte, geht „Liebe Deine Stadt“ vom Alltagsleben aus. Nicht die Revolution ist Referenz, sondern der Schutz und die Reparatur.
Aber es gibt auch Verbindungen. Gemeinsamer Nenner ist die Sorge um die Stadt. So wie „Liebe Deine Stadt“ Aufmerksamkeit erzeugt, schützt und reparieret, so stand bei Beuys das Motiv des Heilens – heute würde man sagen des „Caring“ – im Vordergrund. 1972 begleitete er eine 1. Mai-Demonstration in Berlin und fegte danach mit zwei Helfern den Müll für die Aktion Ausfegen auf.
Für die Ausstellung Skulptur Ausstellung in Münster 1977 errichtete er unter dem Titel Unschlitt / Tallow aus Stearin und Talg den Abguss eines Hohlraums unter einer dysfunktionalen Fußgängerüberführung. Mit der Skulptur, die nur in Innenräumen ausgestellt sein kann, legte er den Finger auf einen wunden Punkt des modernistischen Städtebaus.
Beuys hatte zuvor lange gezögert, mit der Kunst in den städtischen Außenraum zu gehen, die Skulptur im Freien war in seinen Augen durch die Diktatur der Nationalsozialisten korrumpiert. Die Monumente aus Stein und Bronze, die auf Sockeln thronten und Raum einnahmen, klangen nach in den abstrakten Stein- und Metall-Skulpturen, die in der Nachkriegszeit die Städte schmückten. Er suchte nach Alternativen zu aufrechtstehenden Skulpturen, mied Stahl, Bronzeguss und behauenen Stein meistens und setzte stattdessen weiche Materialien wie Fett und Filz ein. Seine Skulpturen liegen eher, als dass sie aufrecht stehen. Sie zeugen von der Schwerkraft. Sie kolonisieren den Raum nicht, sondern halten ihn frei.
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Dem Anliegen von „Liebe Deine Stadt“ am nächsten steht die 1982 begonnene Aktion 7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung. Sie dehnt sich nicht nur räumlich weit aus, über das ganze Stadtgebiet von Kassel, sondern auch zeitlich. Bis heute wird die Aktion durch eine Stiftung fortgeführt, welche die Pflege und, falls nötig, den Ersatz der Bäume gemeinsam mit der Stadt Kassel organisiert. Im Unterschied zu den früheren Werken von Beuys ist 7000 Eichen leicht zugänglich. Beuys stellte mit einem eingängigen Titel und dem kalauernden Untertitel „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ etwas zur Diskussion, das alle nachvollziehen konnten. Auch ökonomisch beschritt er Neuland. Während die Kunst in den 1980er Jahren zu einem exklusiven und elitären Statussymbol wurde, lancierte er ein Projekt, das in erster Linie Menschen einbezog, die sich nicht für Kunst interessierten. Während die Preise für zeitgenössische Kunst in die Höhe schossen, errichtete Beuys 7000 Paare von Bäumen und Steinen, deren Status als Kunstwerk unklar war und die unverkäuflich bleiben.
Zum Autor
Philip Ursprung ist Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Im März ist seine Reise durch das Beuys’sche Werk „Joseph Beuys: Kunst Kapital Revolution“ bei C.H. Beck erschienen (336 S., 29,95 Euro).
Der Aktion „Liebe Deine Stadt“ teilt die Prämissen der sozialen Skulptur. Sie schärft die Empathie für Orte, die bedroht sind. Sie kämpft gegen Monotonie. Sie will die Menschen vor der Rohheit der Immobilienindustrie beschützen, ihr Gedächtnis stärken und ihren Spielraum vergrößern. Die neuere und neueste Kunst ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
„Liebe Deine Stadt“ sorgt dafür, dass auch die neuere Architektur die richtige Aufmerksamkeit erhält, bevor es zu spät ist.