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lit.Cologne 2024Habeck und Friedman eröffnen Literaturfestival mit einem „Fieberschub“

Lesezeit 6 Minuten
Auftakt der 24. lit.Cologne mit der Veranstaltung „Wider den Judenhass“ mit Michel Friedman (Mitte) und Robert Habeck in der Flora Köln. Links im Bild: Moderatorin Nele Pollatschek Foto: Thilo Schmülgen

Auftakt der 24. lit.Cologne mit der Veranstaltung „Wider den Judenhass“ mit Michel Friedman (Mitte) und Robert Habeck in der Flora Köln. Links im Bild: Moderatorin Nele Pollatschek.

Vizekanzler Robert Habeck und der Publizist Michel Friedman eröffnen das Literaturfestival lit.Cologne in Köln - ein Coup der Veranstalter.

Mit ein bisschen Fantasie kann man sich den zentralen Raum der Kölner Flora mit seinen weißen Wänden, den bodentiefen Rundbogenfenstern, den Kristalllüstern und den ornamentierten schlanken Doppelsäulen auch als einen riesigen Lazarettsaal vorstellen. Patientin: die deutsche Gesellschaft. Diagnose: akute Ausbrüche einer immer schon vorhandenen Antisemitismus-Infektion. Und vorn im Saal misst Internist Michel Friedman die Temperatur: „39 Grad“, sagt er. „Ein Fieberschub.“

Zum Auftakt der 24. lit.Cologne ist den Machern des Literaturfestivals, das längst selbst so etwas ist wie ein Laboratorium der gesellschaftlichen Selbstverständigung, wieder ein Coup gelungen. Sie haben den Publizisten, Moderator, Hochschullehrer, Ex-Vize des Zentralrats der Juden in Deutschland und Autor des Buches „Judenhass“ zusammengespannt mit Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck.

Habecks Videobotschaften nach dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel

Der Grünen-Politiker hat mit zwei Videobotschaften nach dem bestialischen Angriff der islamistischen Mördertruppe namens Hamas auf Israel und seine jüdischen Bewohnerinnen jene Solidarität, jenes Mitgefühl und jene Abwehr eines aufrechnenden „Ja, aber“ ins Wort gebracht, das Jüdinnen und Juden in den Wochen nach dem 7. Oktober 2023 so schmerzlich vermisst hatten.

Die Schriftstellerin Nele Pollatschek, selbst Jüdin, dankt Habeck gleich zu Beginn des Abends ausdrücklich und verlässt damit auf eine für den weiteren Verlauf des Gesprächs fruchtbare Art die Position der Moderatorin, die einfach bloß Fragen stellt. Pollatschek spricht von einer „wahnsinnigen Einsamkeit“ nach dem 7. Oktober: Wo seid ihr denn alle?, habe sie sich gefragt.

Neben Michel Friedman gibt Habeck den Psychotherapeuten der Nation

Ja, nickt Habeck, seine jüdischen Freunde hätten ihm exakt das Gleiche gesagt. Deswegen habe er diese Videos veröffentlicht, die dann „ein paar Menschen“ – die wahre Zahl geht in die Millionen – gesehen haben. Er habe das für eine „Notwendigkeit“ gehalten. Ob das Gefühl einer Geborgenheit von Jüdinnen und Juden im Land wiedergekehrt sei, wage er gleichwohl zu bezweifeln.

Neben Friedman und zusammen mit ihm gibt Habeck an diesem Abend den Psychotherapeuten der Nation. Empathisch, einfühlsam, verständnisvoll – und wenn sich Pollatschek und Friedman im letzten Drittel in die Haare bekommen, weil sie nach der Situation staatenloser Palästinenser in Deutschland fragt und er das als unpassenden Konnex zurückweist („Wieso sind wir jetzt, wenn wir über Judenhass reden, mitten im Nahen Osten?“), dann geht Habeck auch da in die Vermittlung: In einem Drama hätten beide recht, sonst sei es kein Drama, zitiert Habeck den Drama-Spezialisten Heiner Müller.

Wie stehen wir als Menschen zu Menschen?

Friedman ist Habeck für dessen Worte nach dem 7. Oktober weniger dankbar als Pollatschek . Klar, auch er fand sie gut. Aber besonders auffällig seien die öffentlichen Stellungnahmen des Ministers doch deshalb, weil die meisten in Deutschland nichts dergleichen getan hätten. Auch er, sagt Friedman, habe in der damaligen Situation „eigentlich nur umarmt werden wollen“ – noch nicht einmal als Jude, sondern als Mensch. Weil sich in solch einer solidarischen Geste etwas sehr Grundsätzliches zeige: Wie stehen wir als Menschen zu Menschen? Nur, fügt Friedman mit einem Seufzen hinzu, man wisse ja aus Partnerschaften, was es heißt, wenn der eine den anderen erst um eine Umarmung bitten müsse...

Seine Diagnose vom akuten Fieberschub, die Friedman am Erfolg der AfD mit ihrem Programm zur Zerstörung der Demokratie festmacht, verbindet er mit einer Langzeit-Anamnese. Seit 1945 habe die deutsche Politik die Aufarbeitung des immer schon vorhandenen Antisemitismus verweigert, judenfeindliche Gewalttaten als Einzelfälle abgetan und in der Reaktion auf antisemitische Vorfälle eine rhetorische Routine des „Nie wieder!“ entwickelt. Die damit eigentlich verbundene Zusage habe Deutschland in Wahrheit nicht eingelöst, „sonst wären wir nicht da, wo wir heute sind“, sagt Friedman. „Versprochen, gebrochen.“

Ursachen für einen deutschen Antisemitismus

„Weil wir auf der lit.Cologne sind“, wo man – so Habeck – im Denken und Reden auch einmal tastend vorgehen dürfe, entspinnt sich unter seiner sanften Führung eine anregende Debatte über spezifischen Formen und Ursachen eines deutschen Antisemitismus. Neben all den viel traktierten Motiven – von der erzwungenen Reduzierung jüdischer Berufstätigkeit im Mittelalter auf Finanzgeschäfte bis hin zur Rassenideologie der Nazis – macht Habeck eine Sehnsucht nach Vervollkommnung, nach Harmonie „in der DNA dieses Landes“ aus: Wir sind als Gesellschaft nur stark, wenn wir nicht streiten, nicht diskutieren. In solch ein Bild hätten die Juden nicht hineingepasst. Jüdische Denker etwa hätten den Vorzug der Verschiedenheit betont und das „Konzept der „Andersheit konsequent durchgehalten.

Genau das zeichnet die Demokratie und eine lebendige Gesellschaft aus. Dementsprechend geht die große Gefahr vom Fehlen einer Debatten- und Streitkultur aus. „Das können wir am Antisemitismus lernen: Das Land muss die richtige Form des Streits finden.“

Habeck nimmt sein Publikum in Köln mit auf eine Denkreise

Friedman und Pollatschek lassen sich auf diese „Denkreise“ Habecks ein. Friedman ist es noch wichtig zu betonen, dass es das „erste globale Unternehmen der 'Weltgeschichte“ – die Kirche – gewesen sei, die mit ihren „Handelsvertretern“, den Missionaren, den Hass auf die Juden als „Gottesmörder“ in alle Welt getragen haben. Das habe sich so tief ins kollektive Unterbewusstsein gegraben, dass man antisemitische Stereotypen – das „Gerücht über die Juden“ (Theodor W. Adorno) – bis heute jederzeit aktivieren könne, sei es in der Wirtschafts- und Finanzkrise oder auch in der Corona-Pandemie: Am Ende ist der Jude schuld. Solche Verschwörungsideologien, erinnert Friedman, habe man nach 2020 auf Demonstrationen unter Polizeischutz verbreiten dürfen.

Nach der Ursachenforschung widmet sich das Trio aber doch noch den Lösungsansätzen: „Warum sitzen wir zusammen?“, fragt Friedman – natürlich wiederum rhetorisch. „Damit es besser wird.“ Und wie wird es besser? Mit Reden, Reden, Weiterreden. „Können wir unser Verhalten ein bisschen verändern? Ein bisschen mehr aufeinander aufpassen? Einander nicht sofort fertigmachen, aber doch fragen: Warum sagst du so etwas?“

Das Ausbleiben machtvoller Solidaritätsbekundungen mit den jüdischen Opfern des Hamas-Terrors wird im Gespräch zwischen Friedman, Habeck und Pollatschek auch zu einem Lehrstück für den Umgang mit extremistischen Bedrohungen, mit Hass und Hetze generell: „Wenn man sich dauernd nicht betroffen fühlt, verändert sich das Koordinatensystem“, warnt Friedman, und: Wer im Alltag und in den persönlichen Bezügen nicht reagiere, „der bekommt schnell einen Muskelkater, wenn er versucht, es öffentlich zu machen.“

Friedmans Aufruf zur Verteidigung der Demokratie ist somit eine Art Appell des Ärzteteams in der Flora an die Selbstheilungskräfte des Patienten Deutschland: „Streiten wir für die Demokratie! Die schlechteste Demokratie ist immer noch besser als die beste Diktatur.“