Marc Chagall steht mittlerweile unter Kitschverdacht. Eine Düsseldorfer Ausstellung kratzt deswegen am Bild des malenden Götterlieblings.
Marc Chagall in DüsseldorfGanz geheuer konnten einem diese Bilder niemals sein

Marc Chagalls „Der große Zirkus“ (1970) ist derzeit in der Kunstsammlung NRW zu sehen.
Copyright: VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Als Marc Chagall endlich nach Paris kam, musste er sich hinten anstellen. Um das Jahr 1911 drängte jeder in der Provinz verlachte Künstler in die Hauptstadt der Moderne, und so durfte sich Chagall glücklich schätzen, dass er nach Monaten des Couchsurfens am Montmartre endlich Unterschlupf im „Bienenkorb“ fand, einem dreistöckigen, von Gustave Eiffel entworfenen Atelierhauses, in dem sich die Vorzüge einer Künstlerkolonie mit den Annehmlichkeiten eines Obdachlosenheims verbanden. Hier lernte er Chaïm Soutine, Fernand Léger, Amedeo Modigliani und die Surrealisten kennen – und wurde von diesen als russisches Wunderkind umarmt.
Manche verglichen Marc Chagall mit einem Faun, andere mit Christus
Vermutlich lag es nicht allein an seinen Bildern, in denen Chagall die jüngsten Errungenschaften der Kubisten mit der jüdischen Folklore seines Heimatdorfes verband. Manche verglichen den samtäugigen Lockenkopf mit einem Faun, andere mit Christus, und nachdem der 25-jährige Chagall auch in Berlin zur Sensation geworden war, schwärmte der Schriftsteller Theodor Däubler: „Ein kosmisches Kind lebt unter uns. Die Farbe ist sein Himmelreich.“
An diesem Bild des von den Göttern geküssten Instinktmalers Marc Chagall versucht die Kuratorin Susanne Meyer-Büser jetzt in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW zu kratzen – zu Chagalls eigenem besten, versteht sich. Mit der Realität seiner Volkskunst und Avantgarde versöhnenden Malerei stimmte es wohl ohnehin nie überein, und mittlerweile steht das „kosmische Kind“ sogar unter Kitschverdacht. Also betont Meyer-Büser in ihrer schlicht „Chagall“ betitelten Ausstellung die düstere Seite der Chagall-Welten, den Abgrund, der unter all den fliegenden Menschen und Tieren seines russischen Idealdorfs gähnt.
Ganz geheuer konnten einem die herrlich-bunten Bilder dieses Malers niemals sein. Da fliegt etwa einer Bäuerin der Kopf vom Hals und trudelt in eine kubistisch gefärbte Umlaufbahn; die verwaiste Kuh säugt derweil neben einem Kalb auch ein menschliches Kind. Auf einem noch in Russland entstandenen „Sabbat“ (eine Kölner Leihgabe) scheint der Raum weniger erleuchtet als in Rot- und Gelbtönen entflammt. Und ein wildes Durcheinander zwischen Frau und Stier wurde 1912 im Pariser Salon der Unabhängigen nicht ganz zu Unrecht der Pornografie geziehen.

Marc Chagalls „Doppelporträt mit Weinglas“ aus den Jahren 1917/18
Copyright: VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Ein zentrales Gemälde der Düsseldorfer Ausstellung, „Golgatha“ aus dem Jahr 1912, zeigt statt der biblischen Szene ein gekreuzigtes blasses Kind. Im Vordergrund trauert ein jüdisches Elternpaar, während am Bildrand ein Mann eine Leiter heranträgt, um das sterbende Kind in den Todesfluss zu setzen. Meyer-Büser sieht in der kubistisch zerbrochenen Szenerie eine Anspielung auf antisemitische Erzählungen, in denen Juden christliche Kinder ans Kreuz schlagen, um Christus zu verhöhnen und das Blut der Ermordeten zu trinken. Nach dieser Lesart hätte Chagall nicht erst unter dem Eindruck des Holocausts die Judenpogrome in seiner Heimat (und anderswo) zu einem seiner großen Themen gemacht.
Historisch setzt „Chagall“ mit dem noch beinahe realistischen Frühwerk in gedeckten, erdigen Farben ein – aber auch hier sitzen schon Fiedler auf Dächern und Menschen flattern im Wind. Angekommen in Paris, nimmt Chagall die Farben und Stile seiner neuen Umgebung an, bleibt den Motiven seiner geliebten Heimat aber treu. Wenn er etwa versucht, ein Bild in der Manier des realistischen Landschaftsmalers Camille Corot zu malen, kommt dabei die üppig wuchernde und wie geträumt wirkende Natur auf „Der Dichter und die Vögel“ heraus.
Binnen kürzester Zeit findet Chagall zu seinem berühmten Stil. Er lässt Liebende vor Glück schweben, den sicheren Weltgrund nach Belieben kippen, und er behauptet in leuchtenden Farben, dass Wunder nicht nur möglich, sondern alltäglich sind. Immer gibt es auf seinen Bildern etwas zu feiern: eine Geburt, eine Hochzeit – oder dass der Tod noch einmal an einem vorbeigegangen ist. Manchmal birgt die heiter-melancholische Nacht, die über seinem idealen Stetl liegt, auch Ungeheuer.
Trotz seines Erfolgs blieb Chagall ein Virtuose der Assimilation
Trotz seines raschen und durchschlagenden Erfolgs blieb Chagall ein Virtuose der Assimilation. Als er 1917 nach Russland zurückkehrte, knüpfte er an seine frühen realistischen Versuche an; offenbar brauchte er die Distanz, um seine Heimat zu Traumlandschaften zu verklären. Nach der Revolution stellte er sich kurz in den Dienst des Suprematismus und übernahm in seiner Region das Amt eines Kunstkommissars, sah aber bald ein, dass er für beides nicht geschaffen ist.
Es gibt einiges, wofür Chagall nicht geschaffen war. Er versuchte sich an „naiven“ Landschaften, an der Collagetechnik der Surrealisten und an der zarten Grausamkeit Soutines. Mitunter führten diese Abwege in interessante Sackgassen, das untypisch-sachliche „Doppelporträt mit Weinglas“ (1917/18) beispielsweise gehört zu den Bildern der Ausstellung, an denen man sich nicht sattsehen kann. Wenn sich Chagall treu blieb, kann einem das schon eher passieren. Gerade in seinem Spätwerk finden sich Arbeiten, die man getrost misslungen finden darf – und solche, die wirken, als hätte er sie als Ersatz für Autogrammkarten gemalt.
Anders als bei Picasso steht die Rehabilitierung des Spätwerks bei Chagall noch aus – vielleicht, weil es seinen frühen Arbeiten zu ähnlich sieht. Man grüßt die mythischen Figuren wie alte Bekannte, auch wenn Chagall seine Leinwände nun oft wie ein Glasmaler aufteilte und einzelne Farbakzente in große einfarbige (meist blaue) Flächen setzte. Im fahrenden Zirkusvolk fand er einen unverfänglichen Stellvertreter für das heimatlose Judentum, gelegentlich illustrierte er klassische Stoffe wie Don Quichotte, Hiob oder die Heimkehr des verlorenen Sohns. Chagalls Figuren scheinen weiterhin zu schweben. Dabei trudeln sie nur noch aus.
„Chagall“, Kunstsammlung NRW am Grabbeplatz, Düsseldorf, 15. März bis 10. August 2025. Der Katalog kostet 39,80 Euro.