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Interview

Marie Jacqout
„Ich strebe danach, mit anderen im Einklang zu sein“

Lesezeit 7 Minuten
Zu sehen ist die Dirigentin Marie Jacquot.

Marie Jacquot wird ab der Spielzeit 2026/2027 Chefdirigentin des WDR Sinfonieorchesters. Am 27. Mai tritt sie mit der Sächsischen Staatskapelle in der Kölner Philharmonie auf.

Die designierte Chefdirigentin des WDR-Sinfonieorchesters über ihr Gastspiel mit der Sächsischen Staatskapelle und ihre Vorfreude auf Köln.

Frau Jacquot, als an Sie die Aufforderung erging, bei der Sächsischen Staatskapelle für den erkrankten Christian Thielemann einzuspringen – was war da Ihr erster Gedanke? Jetzt habe ich's geschafft, jetzt bin ich ganz oben?

Marie Jacquot: Solche Gedanken kommen mir sehr selten. Meine Leistungssportkarriere habe ich schon hinter mir. In der Kunst geht es nicht darum, ganz nach oben zu kommen und die French Open zu gewinnen, sondern die French Open zu erleben. Also nicht darum, die Staatskapelle Dresden einmal dirigiert zu haben, sondern mit ihr schöne Musik zu machen und die Kultur in der Welt zu verteidigen – was wir so dringend brauchen. Meine Gedanken künden eher von Verzweiflung: Kann ich diese Aufgabe gut genug lösen, Strauss und Brahms mit einem der besten Orchester der Welt zu spielen – wo der Geist von Strauss historisch bedingt noch über allem schwebt?

Sie haben das Orchester bereits geleitet. Wie sind Ihre Erfahrungen, was ist in Ihren Augen das Besondere, das Unverwechselbare an dieser Formation?

Mit dem Orchester habe ich als Dirigentin schon viele verschiedene Genres erlebt, von Peter Eötvös´ Kammeroper über eine „Carmen“-Vorstellung bis hin zum Adventskonzert in der Dresdner Frauenkirche. Ich bin absolut begeistert von seiner Flexibilität, jeden Tag, jede Woche so viele verschiedene Stücke auf einem derartigen Niveau zu präsentieren. Ich bewundere und schätze die 475 Jahre Tradition der Staatskapelle sehr, sie hat einen großen Einfluss auf ihr Musizieren. Und vor allem ich bin fasziniert von ihrer Musikalität und dem starken Willen, Klangperfektion zu erreichen.

Zum Programm: Sie bleiben zwar – mit Strauss´ Tondichtungen und Brahms´ vierter Sinfonie – in der deutschen Romantik, haben die Agenda aber trotzdem komplett ausgetauscht. Warum wollten Sie Thielemanns Stücke nicht übernehmen? Und was genau zieht Sie zu den Stücken Ihrer Wahl?

Ich versuche, meinen Weg Schritt für Schritt zu gestalten. Ich möchte mein ganzes Leben lang von Musik begeistert bleiben und nie aufhören, meinen Beruf zu lieben. Kein Interesse habe ich daran, Orchester als Trophäen zu haben – und auch nicht den Ehrgeiz, jetzt schon, nach nicht mal zehnjähriger Karriere, alle großen Stücke des Repertoires dirigiert zu haben. Stücke lernen braucht Zeit, und auch Zeit, sie ruhen zu lassen, wenn man in die Tiefe gehen möchte. Ich will nicht sagen, dass das immer so klappt, aber ich versuche es zumindest. Thielemanns Programm hat einfach nicht in mein Repertoire gehört. Ich springe nicht ein, wenn ich nicht mindestens einen Großteil der Stücke schon dirigiert habe.

So oder so werden auf Ihrer Tournee Werke erklingen, die dem Grundsound der Staatskapelle optimal entsprechen. Ist das für Sie wichtig, repertoirehalber sozusagen auf der sicheren Seite zu sein?

Es war uns wichtig, trotz des Stücke-Wechsels das Orchester-Jubiläum im Auge zu behalten und vor allem den Strauss-Rahmen zu haben. Es hängt dann aber immer auch von vielen verschiedenen Parametern ab, da sind auch viele pragmatische Entscheidungen im Spiel.

Würden Sie dieses Orchester mit, sagen wir mal, „La mer“ dirigieren? Oder anders herum gefragt: Glauben Sie, dass Sie zu Strauss und Brahms einen „französischen“ Zugang haben – was sich beim Dirigieren zum Beispiel in einer spezifischen Disposition der Klangregister bemerkbar machen könnte? Plump formuliert: Was machen Sie anders als Thielemann?

Lustige Frage! Ich bin halt ein anderer Mensch, der die Dinge eben anders macht als Thielemann – was nicht heißt, dass es keine Ähnlichkeiten geben kann. Ich kann aber nur für mich sprechen: Ich bin eine große Liebhaberin der deutschen Romantik, immer schon. Ich habe in Wien studiert und meine Karriere als Kapellmeisterin in Deutschland angefangen. Ich liebe Opern, vor allem die von Richard Strauss, und bin von Klang fasziniert. Im Zentrum aber stehen für mich die Menschen, ich liebe in meinem Beruf die Kommunikation und den Austausch über alles. Das will ich auch in den Aufführungen hören und spüren. Ich strebe nicht nach Perfektion, sie interessiert mich nicht, ich strebe danach, mit anderen im Einklang zu sein und mein Bestes für ein gemeinsam gestaltetes Geschehen zu geben. Egal, mit welcher Musik, mit welchem Repertoire. Wenn schon nicht im gesellschaftlichen Leben, so können wir wenigstens beim Musizieren unseren Meinungsstreit mal beiseitelassen und einfach miteinander sein.

Ihre eigene Ausbildung und Karriere als Dirigentin ist engstens mit dem deutschen Sprachraum, mit der Bundesrepublik und Österreich, und damit auch mit der deutschen Musikkultur verbunden. Geschah das eigentlich zufällig, oder war Ihre ganz bewusste Entscheidung?

Es war ein absoluter Zufall! Ich wusste, dass ich nicht in Frankreich bleiben wollte, mir hat es dort das gefehlt, was ich eben als die Kultur der Gemeinsamkeit bezeichnete. Mein damaliger Dirigierprofessor hat von der Hans Swarovsky-Schule in Wien gehört und mir empfohlen, dort die Aufnahmeprüfung zu versuchen. Ich habe mich tatsächlich nur in Wien präsentiert und nirgendwo sonst. Wenn ich nicht aufgenommen worden wäre, wäre ich wahrscheinlich noch in Frankreich und spielte in irgendeinem Orchester als Posaunistin.

Sie haben viele deutsche Orchester dirigiert. Gibt es zwischen denen wirklich erhebliche Unterschiede, oder nivelliert sich das alles nicht stark in Zeiten der kulturellen Globalisierung? Konkret gefragt: Inwiefern genau klingt das WDR-Sinfonieorchester, dessen Chefdirigentin Sie im kommenden Jahr werden, anders als die Staatskapelle?

Die Globalisierung hat positive und negative Wirkungen auf einen Klangkörper und eine Klangkultur. Insofern ist ein Orchester ein Spiegel der Gesellschaft. Trotzdem klingen das WDR-Sinfonieorchester und die Staatskapelle Dresden natürlich unterschiedlich – verschiedene Traditionen, verschiedene Chefdirigenten, verschiedene Menschen und so weiter. Es ist genauso, als wenn ein Chefkoch sein Lieblingsrezept in Paris und in Nizza kocht. Die Zutaten schmecken etwas anders, die Menschen, mit denen er oder sie arbeitet, sind andere. Die „Idee“ mag dieselbe sein, trotzdem unterscheidet es sich.

Sie wissen, dass Sie beim Kölner Konzert angesichts Ihres bevorstehenden Wechsels zum WDR unter scharfer Beobachtung der hiesigen Musikfreunde stehen werden. Macht das was mit Ihnen?

Ich freue mich irrsinnig die Stadt Köln, die Kölner Kultur und die Kölner und Kölnerinnen kennenzulernen. Ich freue mich auf alle Kultverteidiger und Musikliebhaber und empfange jeden und jede mit offen Armen. Denn ohne sie alle gibt es keinen Grund, Kunst zu machen und zu präsentieren.

Sie waren ja bereits an der Düsseldorfer Oper Kapellmeisterin, haben auch das Gürzenich-Orchester schon geleitet. Es ist für Sie also eine Rückkehr in den vertrauten rheinischen Raum. Freuen Sie sich darauf? Werden Sie nach Köln umziehen, oder behalten Sie Ihren Hauptwohnsitz in Graz?

Natürlich ist es eine kleine Erleichterung, die Region schon zu kennen und ein paar Freunde in der Nähe zu haben. Ein bisschen beängstigend wäre es, wenn man bei einer Sache wirklich bei Null anfangen müsste. Aus privaten Gründen werde ich im Moment nicht nach Köln umziehen, auch nicht nach Kopenhagen. Ich werde aber versuchen, mich meinen neuen „Familien“, der Kölner und der Kopenhagener, so intensiv und tiefgehend wie möglich zu widmen. Denn das ist für mich der einzige Grund, eine Chefposition anzunehmen: etwas menschlich und musikalisch zu entwickeln und erleben.


Marie Jacquot, 1990 in Paris geboren und derzeit im österreichischen Graz ansässig, wurde zunächst als Tennistalent gefördert. Parallel zu diesem Sport spielte sie Posaune. Mit 15 entschied sie sich für die Musik und begann ihre einschlägige Ausbildung mit einem Posaunenstudium in Paris. Diesem folgte ein Dirigierstudium in Wien und an der Weimarer Musikhochschule. Von 2016 bis 2019 war Jacquot Kapellmeisterin in Würzburg, 2019 wechselte sie zur Düsseldorfer Oper (bis 2022). Seit 2023/24 ist sie Erste Gastdirigentin der Wiener Symphoniker, außerdem als Chefdirigentin der Oper in Kopenhagen und des WDR Sinfonieorchesters in Köln (von der Spielzeit 2025/26 an) designiert.

Am Montag, 27. Mai, 20 Uhr, tritt Jacquot mit der Sächsischen Staatskapelle in der Kölner Philharmonie auf – auf dem Programm stehen Werke von Strauss und Brahms. Sie springt ein für Christian Thielemann, der kurzfristig erkrankt ist.