Zum 90. Geburtstag ehrt das Kölner MAKK den Stifter Richard G. Winkler mit einer Ausstellung selten oder nie gezeigter Werke.
Museum für Angewandte KunstDie Liebe zur Mathematik und zur verrückten Wissenschaft
Als junger Mann stand François Morellet (1926-2016) noch ganz im Bann der reinen Mathematik. 1953 zog er drei waagerechte und drei senkrechte Linien über die Leinwand und nannte das dadurch entstandene Gitter aus 16 quadratischen Feldern „16 Carrés“. Es war ein handgemachtes Bild geometrischer Perfektion: „Ich hätte unmittelbar danach Selbstmord begehen müssen“, fand Morellet. „Ich habe es verbummelt, und dann war es zu spät.“
Morellet machte das Beste aus seiner Bummelei und wurde in den 1960er Jahren zum Harlekin auf der Bühne der konkreten Kunst. Statt der Reinheit der Mathematik zu huldigen, begann er sie zu persiflieren und Chaos in die geometrische Ordnung zu bringen. Ein in seiner Schrägheit beinahe schon wieder perfektes Beispiel dafür ist jetzt im Kölner Museum für Angewandte Kunst zu sehen: Für „Trames“ (Schussfäden) spannte Morellet zwei Drahtgitter auf ein schwarz bemalten Holzquadrat; das eine um vier Grad und das andere um minus vier Grad gegen die Bildhorizontale versetzt. Dadurch entsteht ein Flimmereffekt, der sich vermutlich sogar mathematisch berechnen lässt.
Die Sammlung Winkler gehört seit 2008 zum Kölner Museum für Angewandte Kunst
Leider wissen wir nicht, was Richard G. Winkler dazu bewog, sich diese spezielle Form der konkreten Malerei zuzulegen, denn der Architekt, Sammler und nicht zuletzt wichtigste private Stifter des Kölner Design-Museums scheut die Öffentlichkeit und bleibt auch bei Stippvisiten in „seiner“ Sammlung am liebsten anonym. Aber offenbar gehört Winkler trotz seiner beruflichen Neigung zu Zirkel und Lineal nicht zu den Vertretern der reinen Lehre. Er sammelte viele Mathemaler, denen es bitterernst war mit ihren utopischen Umbauplänen (erst die Kunst, dann die Gesellschaft), die ganze Gilde von russischen Suprematisten, Konstruktivisten, Funktionalisten, von Bauhaus über De Stijl bis Zero. Und schmuggelte dann Spielernaturen wie Morellet hinein.
Die rund 700 Bilder und Objekte zählende Sammlung Winkler gehört seit 2008 zum Kölner Museum für Angewandte Kunst und bildet dort eine eigene Abteilung. Unter dem Titel „Kunst und Design im Dialog“ sind dort Kunstwerke neben Designobjekten ausgestellt, eine Besonderheit in der deutschen Museumslandschaft, in der freie und angewandte Künste in der Regel säuberlich getrennt werden. Dieser Dauerpräsentation rückt nun bis zum 16. März nächsten Jahres eine Sonderausstellung an die Seite, die Winkler zu dessen 90. Geburtstag mit einer Auswahl bislang selten oder auch nie gezeigter Kunstwerke beschenkt.
Gänzlich ungetrübt war das Verhältnis zwischen Museum und Stifter in den letzten Jahren nicht. 2015 zog Winkler zwei Hauptwerke seiner Sammlung, zwei lediglich auf unbestimmte Dauer ausgeliehene Kachelbilder Piet Mondrians, aus Protest gegen das neue Kulturgutschutzgesetz aus Köln ab und monierte bei dieser Gelegenheit, das Museum würde seine Stiftung nicht im erhofften und zugesagten Umfang präsentieren. Die Jubiläumsausstellung zum zehnjährigen Bestehen der Sammlung Winkler fiel dann wegen der sich hinziehenden Sanierungsarbeiten am Museumsgebäude deutlich kleiner aus als geplant: 34 Designklassiker rückten die Schenkung ins rechte Licht.
Zu Winklers 90. Geburtstag konzentriert sich die Kuratorin Romana Rebbelmund auf die künstlerische Keimzelle der Sammlung. Unter dem Max Bill entliehenen Ausstellungstitel „… für den geistigen Gebrauch“ zeigt sie nun immerhin 35 Gemälde und Lichtobjekte, angefangen mit einer anonymen, um 1930 entstandenen suprematistischen Studie, die Winkler (wie auch die anderen Werke der Russischen Avantgarde) bei der ehemals in Köln ansässigen Galerie Gmurzynska erwarb. Vor vier Jahren schrieb das Museum Ludwig einige Gemälde als mutmaßlich „nicht authentisch“ ab, die Peter Ludwig bei Gmurzynska erstanden hatte. Bei Winklers Arbeiten scheinen derlei Bedenken nicht zu bestehen; eine 220 Zentimeter hohe „Raumkonstruktion“ von Georgi Stenberg ist laut Rebbelmund eine 1973 von Gmurzynska aufgelegte Edition des 1919/20 entstandenen Originals.
Bei der Zürcher Schule der Konkreten setzte Winkler hingegen auf die Gründungsfiguren
Aus derselben Quelle stammt die posthume Edition einer Gouache, die Piet Mondrian 1928 gemeinsam mit dem Dichter Michel Seuphor schuf. Dieses Nebenprodukt muss in der Ausstellung die von Winkler dauerhaft abgezogenen Mondrian-Gemälde ersetzen, was ihm selbstredend nicht gelingt. Es passt aber zu einem Sammler, der sich nicht scheut, sein Interesse (und Erspartes) auch Entlegenem oder Künstlern aus der zweiten Reihe der großen Kunstbewegungen zu widmen. In der Mondrian-Abteilung findet sich etwa ein Ölgemälde von Werner Graeff, der sich als junger Mann der De-Stijl-Gruppe anschloss, dann ins Fotografie- und Filmfach wechselte, und 1962 die Glaubenssätze seiner Jugend mit einer bei Mondrian verpönten Kreisform und einem geradezu verbotenen Ausflug in die Augentäuscherei der Op-Art hintertrieb.
Beim Bauhaus fehlen die berühmten Namen gänzlich. Dafür sieht man Reklameentwürfe des Grafikers Robert Michel, Vorkurs-Arbeiten des Architekten Karl Cieluszek oder eine „Aufstrebende Komposition“ von Karl Hermann Haupt; lauter Sachen, die einen daran erinnern, dass das Bauhaus vor allem ein Ausbildungsbetrieb und erst an zweiter Stelle ein Brutkasten der Moderne war.
Bei der Zürcher Schule der Konkreten setzte Winkler hingegen auf die Gründungsfiguren. Von Max Bill ist eine „Transcoloration aus Rot“ zu sehen, die man, würde sie nicht auf der Spitze stehen, mit einer aus Drei- und Vierecken gebildeten Lehrtafel verwechseln könnte; bei Bill oder Verena Loewensberg geht es darum, die von Mondrian esoterisch aufgeladenen reinen Formen und Farben unter wissenschaftliche Aufsicht zu stellen und einer praktischen Anwendung zuzuführen.
Langweilig muss das nicht sein, wie die (scheinbar) kunterbunten „Systematischen Farbreihen“ Richard Paul Lohses zeigen oder im letzten Ausstellungsraum die Versuchsanordnungen der „systemischen Kunst“. Zdenek Sykora bemühte 1981 einen der ersten Großrechner des Ostblocks, um eine endlose, Kreise und Bögen schlagende Linie nach „objektiven“ Kriterien auf die Leinwand zu ziehen, während Andras Mengyan 144 identische Würfel malte, an deren acht Ecken jeweils zwei oder drei Punkte stehen und deren Anordnung sich niemals wiederholt. Hier trifft sich vermutlich nicht nur in den Augen Richard G. Winklers die Liebe zur Mathematik mit jener zur verrückten Wissenschaft.
„… für den geistigen Gebrauch“. Künstlerische Positionen aus der Sammlung Winkler, Museum für Angewandte Kunst, An der Rechtschule 7, Köln, Di.-So. 10-18 Uhr, 31. Oktober 2024 bis 16. März 2025