Nach Skandal in KölnHaben Dirigenten wie François-Xavier Roth in Orchestern zu viel Macht?

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Die Silhouette eines Dirigenten vor weißem Hintergrund.

Dirigenten in Orchestern– die Macht, die von ihnen ausgeht, bringt viele Probleme mit sich.

Der mutmaßliche Roth-Skandal ist auch Folge von Hierarchien und Machtmissbrauch. Wieso sind die in der Orchesterbranche so stark? Und was kann man dagegen tun?

Über eine Woche ist es her, dass in der französischen Wochenzeitung „Le Canard enchainé“ Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen den Gürzenich-Kapellmeister und Generalmusikdirektor der Stadt Köln, François-Xavier Roth, publik wurden (der „Stadt-Anzeiger“ berichtete). Seitdem hat der Dirigent seine Arbeit niedergelegt und man debattiert über sexuelle Gewalt in der Kultur.

Dahinter steht auch die Frage, inwiefern Diskriminierung und sexueller Missbrauch auch durch die Strukturen der Orchester selbst beeinflusst werden. Dort gibt es nämlich ganz klare Hierarchien und Machtmechanismen, analysiert die Musikjournalistin Hannah Schmidt. Sie hat Ende 2023 mit dem Frauenkulturbüro NRW ein Buch veröffentlicht, das sich insbesondere mit dem Status der Dirigenten in der klassischen Musik auseinandersetzt.

Dirigenten haben einen „gottgleichen Status“

„Wir haben es in der Klassik, spezifisch im Bereich Dirigat, mit einem Kontext zu tun, in dem Macht total normalisiert ist“, erklärt Schmidt. „Der Dirigent steht vorne auf seinem Sockel und verteilt mit seiner Hand im Grunde Befehle, die alle zu befolgen haben. Er übt selbst auf das Publikum eine Macht aus: Es verstummt sofort, wenn er das Pult betritt.“

Der Dirigent sei somit gewissermaßen „das letzte absolute Genie, das wir kennen“, so die Musikjournalistin. Er habe ein bestimmtes Ritual, wie er auftritt und aufführt. „Und in dem Moment, in dem wir es bei den Dirigenten mit Charisma, mit Künstlern zu tun haben, kommt nochmal eine zusätzliche Komponente dazu. Da wird diesen Leuten in ihrer Position fast schon ein gottgleicher Status zugesprochen.“

Dieser Status sei gerade bei männlichen Dirigenten auch historisch bedingt: „In der Klassik gibt eine Besonderheit, da wir Jahrzehnte, Jahrhunderte alte Geschichten reproduzieren. Die ganze Zeit sehen wir diese unterdrückten, abhängigen Frauen, die am Ende meistens sterben. Und demgegenüber stehen die Männer als Helden und Widersacher, die sich die Welt erobern und sich vor anderen Männern mit der Anerkennung von Frauen schmücken. Ich glaube, das hat einen enormen Einfluss, wenn man das immer und immer wieder inszeniert.“

Ohnehin sind die Strukturen in der Orchester- und Bühnenbranche von Grund auf hierarchisch organisiert. Die einzelnen Künstler müssen zumeist befristete Verträge eingehen, ihr Engagement kann jederzeit aus „künstlerischen Gründen“ nicht verlängert werden. „Deswegen sind Künstler immer in einem latenten Abhängigkeitsverhältnis“, sagt Gerald Mertens, Geschäftsführer der Deutschen Musik- und Orchestervereinigung „unisono“. Und wo es Abhängigkeiten gebe, gebe es eben auch Macht – die wiederum Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt begünstige.

Ähnlich beschreibt es Schmidt: „Das Orchester liefert einen extrem hierarchisch organisierten institutionellen Rahmen. Da haben wir einen Kontext, in dem Macht nicht hinterfragt, sondern ausgelebt wird.“

„Es reicht nicht, dass ich einen Verhaltenskodex ans schwarze Brett hänge“

Umso dringlicher sind die Bemühungen, solche Machtstrukturen aufzubrechen. Claudia Schmitz, geschäftsführende Direktorin des Deutschen Bühnenvereins, betont, dass der Verein bereits als Reaktion auf die MeToo-Debatte einen wertebasierten Verhaltenskodex auf den Weg gebracht habe, der ganz klar Verantwortlichkeiten und gemeinsame Werte festschreibt. Auch das „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“ nimmt Orchester in die Pflicht, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, zum Beispiel die Einrichtung einer Beschwerdestelle oder die Etablierung von Vertrauenspersonen. Dazu kommen externe Angebote wie die „Themis-Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt“, denn interne Stellen sind für viele Beteiligte kein richtiger Safe Space. Die „Themis“ wiederum sei laut Gerald Mertens jedoch viel zu klein besetzt und zu schlecht ausgestattet.

Und trotz aller Maßnahmen bleibt für Claudia Schmitz ein Grundproblem bestehen: Die Werte müssten ins Bewusstsein aller Beteiligten übergehen und selbstverständlich werden. Mertens schlägt in dieselbe Kerbe: „Es reicht nicht, dass ich so einen Verhaltenskodex beschließe und ans schwarze Brett hänge oder auf die Webseite schreibe. So ein Kodex muss verbindlich sein und muss vor allen Dingen in der Praxis gelebt werden. Und das ist, glaube ich, die Schwierigkeit.“

Das Bewusstsein ändert sich, die Konsequenzen auch?

Erweitert man den Blick, zeigt sich, dass die Arbeit in Orchestern auch anders funktionieren kann: „Wenn man in die Freie Szene guckt, findet man schon ganz viele Alternativen. Da gibt es basisdemokratisch organisierte Ensembles und Kollektive, die auch gar nicht mehr auf Dirigenten und Dirigentinnen angewiesen sind“, schildert Musikjournalistin Schmidt. „Und wenn es welche geben muss, geht die Zusammenarbeit ganz anders vonstatten.“

Dies ist bei den klassischen Orchestern allerdings noch nicht der Fall. Mertens erzählt von einem Fall in Erfurt, bei dem eine Gleichstellungsbeauftragte von der Stadt entlassen wurde, nachdem sie Fälle von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt im städtischen Theater öffentlich gemacht hat. Dennoch bessere sich das Bewusstsein in der Szene: „Jeder Fall, von dem wir hören, ist einer zu viel. Da gibt es keine Toleranz. Jeder Fall, von dem wir hören und bei dem sich Betroffene trauen, sich zu äußern, dokumentiert aber auch, dass die Maßnahmen greifen“, so Schmitz.

Aber reicht das? Will man die Machtstrukturen in Orchestern ändern, ist auch entscheidend, dass Führungskräften bei Fehlverhalten entsprechende Konsequenzen drohen. Die Musikjournalistin Schmidt ist da jedoch skeptisch: „François-Xavier Roth ist in der Branche immer noch extrem geschätzt. Ich wage mal die Prognose, dass er keine krassen Konsequenzen spüren wird, wenn er die nicht selbst zieht, wie er es jetzt gemacht, indem er seine Ämter liegen lässt. Vielleicht wird es ein bisschen dauern, aber entweder er gründet sein eigenes Orchester und startet damit durch oder wird in ein anderes Haus berufen.“ Schmidt kann sich aber vorstellen, dass Roth sein Amt als Chefdirigent beim SWR Symphonieorchester nicht antritt. Ihm sei ja anscheinend klar, dass konkrete Nachrichten und Bilder vorliegen und er die Vorwürfe nicht einfach abstreiten kann. „Wenn eine Person, die Leute sexuell belästigt hat, als nächstes wieder in eine Position mit absoluter Macht kommt, dann habe ich das Gefühl, dass niemand etwas gelernt hat.“

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