Navid Kermani über die Corona-KriseEin Loblied auf analoge Begegnungen
- Der in Köln lebende Schriftsteller und Intellektuelle Navid Kermani hat jetzt zum ersten Mal nach der Corona-Krise wieder eine Lesung gehalten – ganz analog, wenn auch vor spärlichem Publikum.
- Das, was einst selbstverständlich war, Kultur und Debatte vor Menschen in einem Raum, muss wieder neu entdeckt werden.
- Kermani nimmt das zum Anlass, über den (Un-)Sinn von Kultur im Streaming-Format nachzudenken, das Wesen von Kunst und die Magie der Gemeinschaft.
- Lesen Sie hier seinen Gastbeitrag.
Letzten Donnerstag las ich in Siegen, wo ich geboren und aufgewachsen bin.
Soweit wir es übersahen, war es die erste Veranstaltung überhaupt, seit Aufführungen unter strengen Auflagen wieder erlaubt sind, und ausgerechnet das Theater meiner Geburtsstadt scheint das erste zu sein, das auf die Schnelle ein veritables Festival organisiert hat, mit Gastspielen des Deutschen Theaters und des Berliner Ensembles, Kammerkonzerten der Südwestfälischen Philharmonie und gleich fünf Lesungen von mir. In Siegen, das muss ich dazuschreiben, in Siegen bin ich weltberühmt, wie es so schön heißt, trete dort beinah jedes Jahr vor ausverkauftem Haus auf, und anders als in München oder Berlin berichtet die Presse sogar, die freilich nur aus der „Siegener Zeitung“ besteht.
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Letzten Donnerstag also der Beginn, mit Desinfektion, Markierungen auf dem Boden für die Laufwege, Eingang und Ausgang getrennt – ach, schrecklich schnell gewöhnt sich der Mensch. Immerhin durfte jeder die Maske abnehmen, sobald er seinen Platz eingenommen hatte, der mindestens zwei Meter, aber oft auch vier oder acht Meter vom nächsten entfernt war. Denn statt der 100 Zuschauer, die erlaubt gewesen wären, waren nicht mehr als 45 gekommen, und weder der Intendant noch der Oberbürgermeister verhehlten in den Eröffnungsreden ihre Enttäuschung.
Angst vor Ansteckung
Warum das Interesse so gering war? Sicher, die Ankündigung kam kurzfristig, für Öffentlichkeitsarbeit blieb kaum Zeit, und selbst unter meinen eigenen Siegener Verwandten gab es nicht wenige, die gar nicht verstanden hatten, dass die Veranstaltungen live stattfinden würden und nicht im Internet. Aber bestimmt waren viele und besonders die Älteren auch aus Angst vor Ansteckung weggeblieben, weil sie vom öffentlichen Leben entwöhnt waren, ebenso schrecklich schnell, oder ihnen eine Aufführung unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln gar nicht vorstellbar oder einfach nur nicht lohnend erschien.
Mein Gesprächspartner Claus Leggewie und ich traten auf die Bühne, legten die Masken auf unseren Tischen ab, die noch weiter als vorgeschrieben auseinander standen, und wie wir es verabredet hatten, legte ich ohne Begrüßung oder Einführung mit der Lesung los. Als Thema für den Eröffnungsabend hatten wir uns für „Berührung“ entschieden, und so las ich zunächst eine Erzählung aus meinem frühen Buch „Du sollst“, in der ein Liebender seiner Geliebten das Versprechen abnimmt, niemals von Liebe zu sprechen. Ich merkte schon, die Zuhörer –, die 45 plus Intendant und Bürgermeister – hörten aufmerksam zu. Dennoch verlas ich mich häufig, wohl weil die Situation ungewohnt und ich verunsichert war. Ich fragte mich auch, ob das Publikum nur deshalb so still war, weil jedes Räuspern viel mehr aufgefallen wäre als in einem voll besetzten Parkett.
Nach der Lesung kamen Claus Leggewie und ich ins Gespräch, und auch das war auf Anhieb gar nicht so leicht, obwohl wir uns gut kennen und so viele gemeinsame Interessen haben bis hin zum FC. Er sprach über das „Noli me tangere“ im Johannes-Evangelium, also wo der auferstandene Jesus Maria Magdalena verbietet, ihn zu berühren, und über die fesselnde Deutung dieser Bibelstelle durch den französischen Philosophen Jean-Luc Nancy.
Auf eine riesige Leinwand wurden alte Darstellungen projiziert, und ehrlich gesagt, über Tizian, Rembrandt, Giotto nachzudenken, war als Auftakt für ein Festival in diesen erhitzten Zeiten wohl etwas abgedreht.
Ungewohntes Licht
Und dennoch: Obwohl wir vereinbart hatten, sie nicht zu erwähnen, kamen wir immer wieder auf die Pandemie zurück, wenn auch indirekt; es ließ sich nicht vermeiden, denn egal, was man dieser Tage bespricht oder liest, es rückt automatisch in ein anderes, ein ungewohntes Licht.
Würden nicht so viele Menschen sterben und leiden, auf anderen Kontinenten ungleich mehr als in Europa, wäre Corona ein spannendes Weltexperiment mit Verfremdungseffekten wie aus der Brecht'schen Dramaturgie. Alles geschieht, aber alles geschieht anders als sonst, und dadurch lernt man es neu zu sehen, die inneren Zustände treten hervor. Menschen, Familien, Gruppen, Staaten bewähren oder entzweien sich, wachsen über sich hinaus oder zeigen ihre Verlorenheit. Wie überall auf der Welt sind es auch im reichen Deutschland die Schwächsten, die den höchsten Preis zahlen: Arme, Alte, Behinderte, Kinder.
Die Schulen etwa, sie bleiben praktisch geschlossen, während die Sommersaison längst ausgerufen ist, der Fußball wieder rollt und die Wirtschaft mit Billionenschulden gestützt wird, die von eben jener Generation abzutragen sind, der wir heute das Recht auf Bildung verwehren.
Als Stream werden Lesungen rasch obsolet
Und die Kultur? Wo sie nicht mehr selbstverständlich ist, erweist sich ihre Notwendigkeit oder eben nicht. Als Stream, wie sich das die Kulturstaatsministerin vorstellt, wenn sie den Veranstaltern jetzt Hunderte Millionen für die Digitalisierung bereitstellt, als Stream werden Theater, Konzerte, Lesungen im Zeitalter von Netflix und Spotify rasch obsolet.
Nein, wir blieben nicht bei Tizian, Rembrandt, Giotto, wir kehrten zur Gegenwart zurück, und doch verlief das Gespräch anders als sonst, es war tastender, es stockte auch zwischendurch, weil jedes Wort Bedeutung zu haben schien. Der Humor fehlte etwas, wir waren nicht locker und souverän, aber gaben auch nicht vor, dass es normal wäre, wenn in einem großen Theater keine 50 Menschen sitzen, in geradezu mathematischer Ordnung verteilt über die 20 Stuhlreihen, und noch dazu das Saallicht erleuchtet ist, als ob es im Dunkeln noch gefährlicher wäre. Meinen zweiten Text las ich ruhig und konzentriert, der von einer Reise durch die radioaktiv verseuchten Gebiete in Weißrussland handelt; 30 Jahre schon verstehen sich dort Berührungen nicht mehr von selbst, ebenfalls ein großes und noch viel schrecklicheres Menschenexperiment.
Wundern, Nicken oder Kopfschütteln
Und irgendwann danach, ja, trugen uns die Gedanken dann doch fort; wir vergaßen die komische Situation ringsherum und nahmen dennoch jeden einzelnen Zuschauer wahr, die Gesichter, die Blicke, das Wundern, Nicken oder Kopfschütteln. Denn der Zuschauer – ja, der Zuschauer oder die Zuschauerin, nicht Zuschauer im Plural – jeder Zuschauer und jede Zuschauerin war fast genauso exponiert wie wir, da er oder sie links und rechts, oben und hinten von mindestens zwei freien Stühlen umstellt war. Und seltsam, jeder und jede einzelne bekam im Laufe der Lesung eine ungeheure, aufregende und beflügelnde Individualität.
Obwohl niemand den anderen hätte berühren können, die Abstände weit größer als eine Armlänge, und jeder von uns vereinzelt war, wuchsen wir zu einer verschworenen Gemeinde zusammen, nicht nur wir mit dem Publikum, sondern das Publikum, das wenige, auch unter sich. So nahm ich es wahr, und so nahmen es zumindest diejenigen wahr, die sich nach der Lesung zu Wort meldeten; jeder und jede sagte, wie dankbar er oder sie sei, dass öffentlich wieder über Literatur gesprochen werde, über Philosophie, über Kunst, und wie überrascht, dass der Geist über alle Abstände hinweg, unter den widrigsten Umständen eine Verbindung unter Fremden zu stiften vermag, weil nicht nur die Krankheit, sondern auch die Begeisterung ansteckend ist. Und die Pandemie, alles außen herum, es war ja da, ohne dass es eigens angesprochen werde musste, weil Kunst in jedem Fall und also auch stillschweigend die Welt reflektiert, wie sie gerade ist, und oft genau, wo die Werke gerade nicht ein Abbild der Gegenwart sind.
Magische Stille vor dem ersten Ton
Theater, Konzerte, Ballett, Opern, Ausstellungen, auch Lesungen sind nicht einfach nur Deklamationen; noch die hermetischsten Aufführungen nehmen die Reaktionen des Publikums auf, sind ein Wechselspiel von Spieler und Zuschauer und verändern sich daher mit jeder Aufführung. Und Kunst, zumal darbietende Kunst, ist nicht nur Inhalt. Sie ist Aura, Geruch, Publikum, Freiheit des umherschweifenden Blicks, Lichtstimmung, guter Klang, Nähe und Ferne, je nachdem, wo du sitzt, ja, auch Beschaffenheit des Polsters, Haptik der Stuhllehne, die magische Stille vor dem ersten Ton und später wieder vor dem Ausbruch des Applauses.
Zur Person
Navid Kermani, geb. 1967 in Siegen, ist Orientalist und Schriftsteller. Für seine literarischen Arbeiten wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Er lebt in Köln. (jf)
Sie ist Atem, Schweiß, Herzklopfen der Schauspieler, die du nicht nur als Bild siehst, sondern im Parkett spürst. Und so beschwerlich die Regeln erscheinen mögen, die den Künstlern notgedrungen auferlegt sind, sie sind immer noch unendlich viel leichter als in jedem Krieg. Diese und nächste Woche geht es weiter, in Siegen und hoffentlich bald auch wieder anderswo. Und so wenig Plätze es vorläufig gibt, umso kostbarer sind sie auch.
Das Festival der Abstände findet noch bis zum 11. Juli im Siegener Apollo-Theater statt. Programm: www.apollosiegen.de