„The Sandman“ auf NetflixEin Traumtyp, nur etwas blass um die Nase
Köln – Vor vielen Sommern traf ich einmal Neil Gaiman zum Gespräch in Köln. So düster und abgründig seine Werke sein mögen, der stets schwarz gekleidete Autor erwies sich als freundlich und zugewandt. Wir plauderten über alles Mögliche, als Gaiman unvermittelt fragte, ob ich „Der Gotteswahn“ gelesen habe, die atheistische Streitschrift des Evolutionsbiologen Richard Dawkins?
Das hatte ich und stimmte Dawkins Argumenten zu, nicht jedoch der Verbissenheit, mit der sie vorgetragen werden. Gaiman pflichtete bei, er hatte jedoch noch ein anderes Problem mit dem Traktat: „Dawkins leugnet Gott, ich dagegen glaube an alle Götter.“
Unsere Unterhaltung fiel mir wieder ein, als ich mir die zehn Folgen der neuen Netflix-Serie „The Sandman“ anschaute, der ebenso sehnsüchtig wie ängstlich erwarteten Verfilmung von Gaimans berühmtesten Werk, das bis dahin als unverfilmbar galt, zu gewaltig die Schöpfung, zu exzentrisch ihre weit verästelten Geschichten.
Niemand hat so viele Götter erschaffen wie Neil Gaiman
Die polytheistischen Neigungen des Briten sind in seinem Werk, ob Roman, Short Story, Drehbuch oder Comic, nur allzu offensichtlich. Kein zeitgenössischer Autor hat mehr Göttinnen und Götter wiederbelebt oder erschaffen. Sein Pantheon hätte längst wegen Überfüllung geschlossen, wäre da nicht die seinen makabren Geschichten zugrundeliegende Menschenfreundlichkeit: Es gibt zwischen Himmel, Welt und Hölle genügend Platz für jedes nur erdenkliche Glaubenssystem. Je bizarrer, desto menschlicher.
Gaimans berühmteste Götterfamilie aber sind die Ewigen, im Original „The Endless“, in Fleisch und Blut verwandelte elementare Kräfte unseres Lebens wie Destiny, Death, Desire, oder Dream, auch genannt Morpheus, der bleiche Herr der Träume und Titelheld seiner Comic-Serie „The Sandman“. Der Sandman hatte als Superheld aus der dritten Reihe ein Schattendasein im Universum des Marvel-Konkurrenten DC geführt – bis die damalige DC-Redakteurin Karen Berger ihrem unerprobten Autoren Carte blanche für eine Neuerfindung gab.
Von Shakespeare zu Barbie
Es blieb letztlich nur der Name, um den herum Neil Gaiman seine scheinbar grenzenlose und herrlich verschrobene Mythologie errichtete, in der Shakespeare-Komödie vor Elfen aufgeführt werden, Serienkiller auf Kongressen tanzen und Morpheus in einer Szene mit dem Herrscher der Unterwelt ringt, um gleich darauf in den Träumen zweier Charaktere zu erscheinen, die Ken und Barbie heißen.
In den frühen 1990er Jahren entspann sich ein regelrechter Kult um die „Sandman“-Comics, gerade weibliche Leser, denen die Macho-Superhelden-Welt von DC sonst nichts zu bieten hatte, fanden sich hier wieder und verehrten Gaiman wie einen Rockstar. Und selbst ein Macho-Superautor wie Norman Mailer lobte die Intellektualität des Comics.
Kaum erklärte Gaiman die Serie 1996 nach 75 Ausgaben für (vorläufig) beendet, begannen die Versuche, den fantastischen Stoff für die große Leinwand zu adaptieren. Sie scheiterten samt und sonders, während viele andere Gaiman-Geschichten in bewegte Bilder übersetzt wurden, von „Coraline“ über „Stardust“ bis zu „American Gods“. Sogar der „Sandman“-Ableger „Lucifer“ wurde zur erfolgreichen TV-Serie. Irgendwann erklärte Gaiman öffentlich, es sei ihm lieber, der „Sandman“ werde nie, denn schlecht verfilmt.
Dass es nun endlich geklappt hat, liegt an mehreren Faktoren: Zum Beispiel daran, dass sich mit David S. Goyer endlich der richtige Filmemacher dem Stoff angenommen hat, der selbsterklärte Comic-Fanatiker zeichnet als Drehbuchautor für Christopher Nolans „Batman“-Trilogie verantwortlich (leider auch für Zack Snyders „Batman v Superman: Dawn of Justice“).
Oder auch an der breiteren Mainstream-Akzeptanz, die das Fantasy-Genre vor allem nach Peter Jacksons „Herr der Ringe“-Filmen gewonnen hat. Und nicht zuletzt daran, dass Amazon Prime die Tolkien-Saga demnächst mit großem Aufwand fortsetzt, während HBO sein erstes Spin-off von „Game of Thrones“ zeigt.
Lebenslustig aber unerbittlich
Auch Netflix hat für seine „Sandman“-Serie keine Kosten gescheut. Glaubt man glatt, was man da an irrealen CGI-Landschaften zu sehen bekommt. Noch einfacher gestaltet sich die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit dank der hervorragenden Besetzung, in der verlässliche Größen wie Charles Dance, David Thewlis und Stephen Fry auf inspirierende Newcomer wie etwa Kirby Howell-Baptiste treffen, die Dreams lebenslustige und warmherzige, aber unerbittliche Schwester Death verkörpert. Und Tom Sturridges gertenschlanker Goth-Gott wirkt, als wäre er direkt den Comic-Seiten entstiegen, wie im alten Video von a-ha.
In den Comics hält der Sandman ausführliche Grübelmonologe in weiß auf schwarz gedruckten Denkblasen. In der Adaption hat man ihm einen von Patton Oswalt („Ratatouille“) gesprochenen Raben zur Seite gestellt – und sogar das funktioniert.
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Kaum zu glauben ist freilich, wie eng sich die Serie sonst an die Vorgaben der Comic-Reihe hält, die ja damit beginnt, dass ein stummer Sandman von einem bösen Magier ein Jahrhundert lang in eine Glaskugel gebannt wird, nicht gerade der Einstieg, nach dem Hollywood lechzt. Nicht anders als der junge Gaiman findet die Serie nur langsam ihren Rhythmus, stolpert gelegentlich – aber hier wie dort wird Geduld mit zunehmend ausgefallenen und berührenden Folgen belohnt. Langsam bröckelt die Arroganz des Herrn der Träume, auch ein Ewiger muss mit der Zeit gehen. Und wir Zuschauer lernen, die Vernunft schlafen zu legen, stattdessen unseren Träumen zu trauen, ihren Irr- und Abwegen.
Anders gesagt: „The Sandman“ ist die seltene Fantasy-Serie, die bereit ist, dem Flug der Fantasie überallhin zu folgen. Ihre Flügel werden uns noch weit tragen, die unglaublichsten Kapitel sind noch unverfilmt.