Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse12 Todesurteile – Verfahren wurde zum Vorbild
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Hermann Göring steht am 21. November 1945 auf der Anklagebank des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses.
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Nürnberg – Der Nürnberger Justizpalast war wie gemacht für die Amerikaner. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs lag er in ihrer Besatzungszone, die Gefangenen konnten aus der benachbarten Untersuchungshaftanstalt direkt in den Gerichtssaal geführt werden. Und Nürnberg hatte als früherer Austragungsort von Adolf Hitlers Schau-Parteitagen auch noch jede Menge Symbolcharakter.
Schnell war die Entscheidung klar: Der Nazi-Nomenklatura von Hermann Göring bis Rudolf Heß sollte in Nürnberg der Prozess gemacht werden. Die Sowjetunion – Moskau hatte nach Darstellung von Historikern eher einen „kurzen Prozess“ mit vorherbestimmten Todesurteilen im Sinn – stimmte nach erstem Zögern zu – unter der Bedingung, dass der offizielle Sitz des Internationalen Militärgerichtshofes Berlin sein musste, Nürnberg nur der Austragungsort.
Steinmeier spricht bei Festakt
Mit einem Festakt wird am Freitag (19 Uhr) der 75. Jahrestag des Beginns der Nürnberger Prozesse begangen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält die Ansprache im historischen Saal 600 des Nürnberger Justizpalasts, in dem am 20. November 1945 und damit ein halbes Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs der erste Prozess gegen führende Köpfe des Nationalsozialismus begann.
Wegen der Corona-Beschränkungen gibt es nur wenige Teilnehmer am Festakt, dieser wird live im Fernsehsender Phoenix übertragen. Vor dem Festakt trifft Steinmeier am Nachmittag in Nürnberg Menschen, die sich in der Coronakrise besonders engagieren. (afp)
Was sich im Nürnberger Justizpalast – im historischen Saal 600 öffentlich und in mehr als 500 Büroräumen hinter verschlossenen Türen – vom 20. November 1945 an über ein Jahr abspielte, sollte zum größten Beispiel der internationalen Strafgerichtsbarkeit in der Geschichte werden.
Insgesamt 13 Prozesse gegen Kriegsverbrecher der Nationalsozialisten wurden aufgerufen. In den zwölf Nachfolgeprozessen nach dem ersten Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher standen insgesamt 185 Personen vor Gericht.
Allein im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher saßen 22 Männer auf der Anklagebank. Die Namensliste liest sich wie das Who-is-Who von Hitlers Vasallen - von Reichsmarschall Hermann Göring über Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß bis zu NS-Außenminister Joachim von Ribbentrop. Als das Gericht zum Auftakt Filmdokumente über die Nazi-Gräuel zeigen ließ, wandten sich die Verantwortlichen, die allesamt auf „nicht schuldig“ plädiert hatten, ab. „Ich glaube es nicht“, sagte Hitler-Stellvertreter Heß.
Heraus kamen am Ende zwölf Todesurteile. Zehn von ihnen wurden am 16. Oktober 1946 in der Sporthalle des Nürnberger Zellengefängnisses vom US-Henker John Woods vollstreckt. Der Leiter der NS-Parteikanzlei, Martin Bormann, war in Abwesenheit verurteilt worden und hatte – wie erst Jahrzehnte später endgültig geklärt werden konnte – ohnehin schon 1945 Suizid begangen.
30. September 1946: Die Hauptkriegsverbrecher hören der Urteilsverkündung zu. In der ersten Reihe auf der Anklagebank sitzen die Angeklagten Hermann Göring mit dunkler Brille, Rudolf Hess, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel, Ernst Kaltenbrunner, Alfred Rosenberg, Erich Raeder mit dunkler Brille, Wilhelm Frick, Julius Streicher und Walter Funk (v.l.). In der hinteren Reihe vor den Militärpolizisten: Karl Dönitz, Constantin von Neurath, Baldur von Schirach mit dunkler Brille, Fritz Sauckel, Alfred Jodl, Franz von Papen, Arthur Seyss-Inquart und Albert Speer (v.l.).
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Göring vergiftete sich wenige Stunden vor seiner geplanten Hinrichtung. Sieben der Angeklagten erhielten langjährige, teils lebenslange Haftstrafen, die sie in Berlin-Spandau absaßen. Rudolf Heß war jahrelang der einzige und letzte Häftling – er erhängte sich im Alter von 93 Jahren im Jahr 1987.
Verfahren ging in die Justizgeschichte ein
Nürnberg, unmittelbar nach dem Krieg – das sollte in die Justizgeschichte eingehen. Erstmals überhaupt wurden Politiker für ihre Machenschaften persönlich strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen. Die Nürnberger Prinzipien, auf denen der Internationale Militärgerichtshof (IMG) aufgebaut war, wurden wenig später von den Vereinten Nationen geadelt. Auf ihnen fußten seitdem alle internationalen Strafgerichtshöfe.
Internationaler Strafgerichtshof geht auf Nürnberg zurück
Das historische Tribunal in Nürnberg legte die Grundlage für den Internationalen Strafgerichtshof, der seit 2002 von Den Haag aus arbeitet. Es ist das weltweit einzige Gericht, das Vergehen wie Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ahndet.
Doch die Richter in den Niederlanden haben mit weit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen als ihre Vorgänger in Nürnberg. Seit seiner Gründung vor 18 Jahren versucht der Strafgerichtshof, Angeklagte festnehmen zu lassen.
Gegen den ehemaligen sudanesischen Präsidenten Omar al-Baschir liegt beispielsweise seit zehn Jahren ein Haftbefehl vor, dennoch sitzt er noch immer nicht in Den Haag auf der Anklagebank. Das größte Hindernis ist, dass die USA den Gerichtshof in den Niederlanden nicht anerkennen. (afp)
Der Vorsitzende Richter Robert H. Jackson, ehemals Richter am Supreme Court der USA in Washington, hatte schon damals diese Vision: „Denn wir dürfen niemals vergessen, dass nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden“, sagte er zum Auftakt des Prozesses.
„Diesen Angeklagten einen vergifteten Becher reichen, bedeutet, ihn an unsere eigenen Lippen zu bringen. Wir müssen an unsere Aufgabe mit so viel innerer Überlegenheit und geistiger Unbestechlichkeit herantreten, dass dieser Prozess einmal der Nachwelt als Erfüllung menschlichen Sehnens nach Gerechtigkeit erscheinen möge.“
Vorbild für alle Anklagen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Überall, wo in international besetzten Gerichten etwa Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden – die Rechtsgrundlagen gehen auf Nürnberg zurück. In Den Haag, wo unter anderem Jugoslawiens Ex-Staatschef Slobodan Milošević auf der Anklagebank saß, genauso wie im afrikanischen Ruanda. Allzu oft habe aber nach Nürnberg noch die politische Macht über das Recht gesiegt.
Dennoch: „Angesichts der Erwartungen, die man heutzutage in die Tätigkeit internationaler Tribunale setzt, lohnt sich der Blick zurück auf ein Geschehen, welches das Völkerrecht gleichwohl ein entscheidendes Stück weiterbrachte, nämlich in die Richtung der personalen Verantwortlichkeit führender Militärs, Politiker und Wirtschaftsführer gewalttätiger Regime“, schrieb der frühere Landgerichtspräsident, Rechtsprofessor und Buchautor Klaus Kastner.
So groß die Nachwirkung der Prozesse heute ist, so sehr herrschte unmittelbar nach dem letzten Richterspruch Katerstimmung. Eine gewisse „Leere“ sei nach dem Urteilsspruch eingetreten, Ernüchterung geradezu, notierte die berühmt gewordene US-Kriegsreporterin Martha Gellhorn, eine von Hunderten Prozess-Berichterstattern aus aller Welt, die nach Nürnberg gereist waren. „Natürlich musste es so sein, denn für solch eine Schuld war keine Strafe groß genug.“
Der berühmte Saal 600 im Justizpalast, den die Amerikaner erst zur „Texas Bar“ – eine Inschrift zeigte unmittelbar vor Beginn der Prozesse noch den Bierpreis von einer halben Mark – und dann zum Schauplatz für ein Stück Weltgeschichte gemacht hatten, schrieb erst etwas später in Hollywood Filmgeschichte. Vor allem die Verfilmung eines Nachfolgeprozesses unter dem Titel „Urteil von Nürnberg“ mit Spencer Tracy in der Hauptrolle des US-Richters Dan Haywood wurde weltberühmt. Maximilian Schell bekam für seine Rolle als Verteidiger Hans Rolfe einen Oscar.
In Deutschland selbst blieben die Prozesse zunächst ohne großen Widerhall. Das deutsche Volk, geschlagen und beschämt, schien genug zu haben von der Aufarbeitung des endlich überwundenen NS-Regimes und des Krieges. Es blieb jahrzehntelang der Justiz überlassen, die historisch bedeutsamen Prozesse aufzuarbeiten.
Erst seit 2010 gibt es unter der Regie der Museen der Stadt Nürnberg eine Dauerausstellung im Justizpalast, die die Geschichte für Interessierte erlebbar macht. 80 000 Menschen – viele davon aus dem Ausland – machen jedes Jahr von dieser Möglichkeit Gebrauch.